Dienstag, 29. Dezember 2009

Die 100 besten Filme des Jahrzehnts



Das erste Jahrzehnt des neuen Jahrtausends musste schon vor seiner Vollendung viel Kritik einstecken. Es sei grösstenteils von Fortsetzungen und anderen Wiederverwertungen Marke Hollywood dominiert worden und würde sowieso stark hinter den goldenen 90ern zurückfallen, als das Kinopublikum sowohl mit Superblockbustern wie Jurassic Park, Terminator 2 und Matrix als auch mit Kultklassikern wie The Big Lebowski, Pulp Fiction und Fight Club verwöhnt wurde.

Zugegeben, die 00er Jahre haben sich nicht gerade mit Rum bekleckert, wenn es etwa um Nobrainer-Action ala Transformers 2 oder um endlose "Torture Porn"-Streifen ala Hostel. Anderseits muss man ganz klar auch positiv herausstreichen, dass uns der amerikanische Film dieses Jahrzehnt doch so einiges gebracht hat, beispielsweise eine goldene Ära der Animationsfilme (die meisten aus dem Hause Pixar), einen Boom von Fantasy- und Superheldenstreifen oder eine ganze Welle qualitativ hochwertiger Independentfilme.

Um diese Dekade noch einmal Revue passieren zu lassen, habe ich nun eine Liste meiner persönlichen hundert Lieblingsfilme, die seit dem 1. Januar 2000 in der Schweiz im Kino angelaufen sind, aufgestellt. Dass eine solch strikte Reihenfolge Schwächen hat und die Platzierung um jeweils etwa plus-minus zehn Plätze schwanken kann, versteht sich hoffentlich von selbst.

Hier also die Liste:


1. The Lord of the Rings 1 - 3
2. Memento
3. The Dark Knight
4. Le Fabuleux destin d'Amélie Poulain
5. Eternal Sunshine of the Spotless Mind
6. Cidade de Deus
7. Ratatouille
8. Star Wars: Episode III - Revenge of the Sith
9. Billy Elliot
10. Sen to Chihiro no kamikakushi
11. The Prestige
12. Across the Universe
13. Letters from Iwo Jima
14. Michael Clayton
15. The Butterfly Effect
16. Control
17. No Country for Old Men
18. Sin City
19. Finding Nemo
20. Gran Torino
21. Hot Fuzz
22. Magnolia
23. Monsters, Inc.
24. Requiem for a Dream
25. Eastern Promises
26. Inglourious Basterds
27. In Bruges
28. Million Dollar Baby
29. El laberinto del fauno
30. Shaun of the Dead
31. Adams Äpfel
32. Watchmen
33. Les choristes
34. Fish Tank
35. Into the Wild
36. The Incredibles
37. The Assassination of Jesse James by the Coward Robert Ford
38. Zodiac
39. Children of Men
40. 3:10 to Yuma
41. Hauru no ugoku shiro
42. Pirates of the Caribbean: The Curse of the Black Pearl
43. Vals Im Bashir
44. The Pianist
45. The Bourne Ultimatum
46. Mystic River
47. Shrek 2
48. Crash
49. Changeling
50. Babel
51. Das weisse Band - Eine deutsche Kindergeschichte
52. Toy Story 2
53. King Kong
54. Adaptation.
55. Cast Away
56. Charlie Wilson's War
57. Where the Wild Things Are
58. Before the Devil Knows You're Dead
59. WALL-E
60. Slumdog Millionaire
61. Superbad
62. Collateral
63. American Gangster
64. Black Hawk Down
65. There Will Be Blood
66. Big Fish
67. The Man Who Wasn't There
68. Being John Malkovich
69. Gomorra
70. Mulholland Dr.
71. Garden State
72. Atonement
73. Shrek
74. Avatar
75. State of Play
76. Master and Commander: The Far Side of the World
77. Death Proof
78. The Wrestler
79. Hard Candy
80. Casino Royale
81. Batman Begins
82. Ice Age
83. Den brysomme mannen
84. Apocalypto
85. The Hurt Locker
86. District 9
87. O Brother, Where Art Thou?
88. Jarhead
89. Star Trek
90. A History of Violence
91. Burn After Reading
92. Coraline
93. 300
94. Insomnia
95. The Hangover
96. Snatch.
97. Road to Perdition
98. Donnie Darko
99. The New World
100. Spider-Man 2


Sonntag, 27. Dezember 2009

Avatar (Kino Review)



Avatar

Ich äusserte mich bereits an dieser Stelle - relativ kritisch - zum Trailer von Avatar, James Camerons neustem Superblockbuster. Nun habe ich den angeblich grossartigsten Film des Jahrzehnts endlich gesehen (selbstverständlich auf 3-D) und konnte mich selbst davon überzeugen, ob die neue Technik tatsächlich das Zeug zum Durchbruch hat. Um dies schon einmal vorweg zu nehmen: Das hat sie.

Handlung:
Das Jahr 2154: Die Rohstoffe der Erde sind erschöpft und die Menschen haben begonnen, in den Weiten des Alls nach Alternativen zu suchen. Auf Pandora werden sie fündig, doch der Planet ist von dichtem Dschungel überwuchert, in dem eine intelligente, humanoide Spezies namens Na'vi ist im Einklang mit der Natur lebt.
Der Ex-Marine Jake Sully, der seit einer Verletzung bei einem Kampfeinsatz von der Hüfte abwärts gelähmt ist, wird nach Pandora geholt, um am Projekt AVTR teilzunehmen, und soll den Avatar – eine Kreuzung aus menschlichen und Genen der Na'vi – seines verstorbenen Zwillingsbruders übernehmen.
(frei nach Wikipedia)

Frei von jeder subjektiven Wertung muss man feststellen, dass es einen optisch derart aufwändig gestalteten Film wie "Avatar" schlicht und einfach noch nie gegeben hat. Was Cameron hier aus dem Hut, beziehungsweise aus über einem Petabyte Speicherplatz (entspricht 100 Gigabytes pro Filmsekunde!) gezaubert hat, ist schlicht unfassbar. Zugegeben, vollständig ausgereift ist die 3-D-Technik noch nicht und weiterhin etwas anstrengend für die Augen, doch der Effekt übertrifft auch so die wildesten Vorstellungen: Der Zuschauer ist in Pandora.
Dazu kommt, dass Cameron seit jeher die Fähigkeit auszeichnet, dass er im Gegensatz zu anderen Regisseuren die Technik auch wirkungsvoll einzusetzen weiss. In "Avatar" hat er ein faszinierendes Gleichgewicht gefunden zwischen Tempo und der Ruhe, die nötig ist, um die Bilder wirken zu lassen. So verliert man bisweilen den Überblick, wenn es mal gar hektisch drunter und drüber geht im fremden Dschungel, doch nur um sich Sekunden später in einer ästhetischen Zeitlupe wiederzufinden, die einem den virtuellen Raum wieder voll bewusst macht.
Dazu kommt, dass Cameron der ewigen Verlockung, lange und exzessive Kamerafahrten auszukosten, weil es am Computer eben möglich ist, widerstehen kann. Stattdessen berücksichtigt er klug die Entwicklungen des Action- und insbesondere des Science-Fiction-Films der letzten Zeit (siehe District 9) und überrascht mit zahlreichen Point-of-View-Shots, Schwenks und plötzlichen, beinahe schon dokumentarisch anmutenden Zooms. Dadurch kann er - im Gegensatz zu Robert Zemeckis mit Beowulf - die Früchte seiner Arbeit ernten, indem "Avatar" tatsächlich ein visuelles Universum bildet, das von unserer Wahrnehmung akzeptiert wird - nicht als tatsächliches Abbild der Realität, sondern als glaubwürdige, in sich geschlossene imaginäre Welt.
Dies ist in erster Linie der detailversessenen Gestaltung der Umwelt auf Pandora zu verdanken; seien es nun riesige Felsklippen, überbordende Dschungelflora oder einfach der Naturalismus von Feuer. Auch die Brücke zwischen Real- und Animationsfilm hat noch niemand so spektakulär geschlagen wie Cameron, indem das Gollum-Verfahren "Motion Capture" in den letzten Jahren markant weiterentwickelt wurde. So begeistert der Hauptavatar von Jake Sully nicht nur durch Oberflächen mit unvorstellbar plastischer und geradezu greifbarer Texturierung, sondern auch durch differenzierte Gesichtszüge, in denen man Sam Worthington auf den ersten Blick wiedererkennt. Auf die Spitze getrieben werden all diese handwerklichen Aspekte, sobald die Handlung buchstäblich den Boden unter den Füssen verliert und sich die virtuelle Kamera zusammen den Na'vi auf ihren Flugmounts - ich meine natürlich Flugtieren - in die wolkenverhangenen Tiefen der grenzenlosen Topographie Pandoras stürzt.

Die comichafte Ambiente der Computerästhetik vermag Cameron jedoch noch immer nicht gänzlich abzuschütteln, ja er beschwört sie insofern geradezu herbei, indem er einen Grossteil der Story eben doch aus blauen Elfen mit schönen grossen Augen bestehen lässt, die in einer bunten Kitschwelt herumhüpfen. Auch das Motion Capture stösst in Sachen Glaubwürdigkeit noch an seine Grenzen, wenn es etwa darum geht, echte Emotionen wie Trauer oder Bestürzung darzustellen.


So zementiert Cameron mit "Avatar" sein Image als Technokrat, besser gesagt als König der Technokraten, nicht aber als subtiler Auteur. Sein Film funktioniert exakt solange, wie sich der Zuschauer von den fulminanten optischen Reizen in den Bann schlagen lässt. Diese Zeitspanne mag stark vom jeweiligen persönlichen Hintergrund abhängen, dürfte sich aber in erster Linie auf die erste Hälfte erstrecken, wo auch die inhaltliche Ebene im Zeichen des neugierig-naiven Erkundens einer wundersamen Welt steht. Anders gesagt: Die Stärke von "Avatar" ist es, das Gefühl des Protagonisten, sich in einer vollkommen neuen Umgebung zu befinden, auf den Zuschauer zu übertragen. Das ist schön und gut, nur leider folgt Cameron Pfaden, die in Hollywood mehr als ausgetreten sind, und folglich setzt in der zweiten Hälfte tatsächlich so etwas wie eine punktuell an die Oberfläche gelangende Langatmigkeit ein.
Schien Cameron früher, als er mit Science-Fiction-Meilensteinen wie Aliens und Terminator begeisterte, noch ein ausgeprägtes Gespür für überraschende Storywendungen und sorgfältig gezeichnete, unverwechselbare Figuren zu haben, so ist davon seit Titanic nur noch wenig zu erkennen. In "Avatar" vermag es höchstens der von Sam Worthington trotz limitierten Möglichkeiten solide gespielte Protagonist, eine stabile emotionale Verbindung zum Zuschauer aufzubauen, während das restliche Figurenensemble - ob real oder digital - aus von Anfang an auf wenige Eigenschaften festgelegte Stereotypen besteht. Noch dazu Stereotypen, die man aus Camerons eigenem Œuvre zur Genüge kennt, so die Figur des utilitaristischen und militaristischen Colonel Quaritchs. Auch der Plot bietet unter genauer Betrachtung praktisch keine einzige echte Überraschung, stattdessen liesse es sich geradezu mit der Stoppuhr auf bestimmte Ereignisse warten. Einerseits ist es durchaus angenehm, dass Cameron eine bodenständige Zukunftsstory liefert, anderseits hätte man sich nicht ganz so offensichtlich von Popkultur-Bestandteilen wie Pocahontas oder Dancing with Wolves inspirieren lassen müssen. Auch das Design der fremden Welt und der menschlichen Kolonie hätte origineller ausfallen können, statt augenscheinlich in der Requisitenkiste von Aliens und co. zu stöbern. Und schlussendlich stellt sich auch die Frage, ob es Cameron wirklich ernst meint mit seiner Message, wenn er einen naiven "Zurück zur Natur"-Mythos beschwört und gleichzeitig die finale Materialschlacht in einer Weise inszeniert, die sich nur als verherrlichend bezeichnen lässt. Hier weckt "Avatar" nicht unbedingt vorteilhafte Assoziationen mit 300.

Vielleicht verdient Cameron aber auch Nachsicht. Der Druck war ohne Zweifel gewaltig bei einer Produktion solch astronomischen Ausmasses, die sich auf keine direkte Vorlage stützt und darüber hinaus über weite Strecken nur animierte Figuren bietet, und dass sich in den Köpfen der Produzenten die schlechten Erinnerungen an Final Fantasy regten, darf angenommen werden. Das Projekt wäre ohne die Beteiligung und das Engagement von James Cameron persönlich also höchstwahrscheinlich nie zustande gekommen. Und wie es aussieht, hat dieser seine Hausaufgaben gemacht: "Avatar" hat in der USA allein über das Eröffnungswochenende 73 und bisher weltweit über 400 Millionen Dollar eingespielt. Fortsetzungen sind also schon in Planung und man darf auf weitere Durchbrüche der 3-D-Technik im kommenden Jahrzehnt hoffen.

Natürlich fällt es leicht, Camerons Film zu kritisieren, vor allem dann, wenn man sich die Sache nach einer Woche nochmals durch den Kopf gehen lässt. Im Grunde ist "Avatar" grüner Ethnokitsch, eskapistischer noch dazu. Aber vielleicht ist gerade das der Punkt: Dies ist nicht der Film, über den man eine Woche später noch nachdenken sollte. Dies ist der Film, der einen mit einer unvergleichlich intensiven visuellen Suggestion gefangen nimmt, wie man es sich vor zehn Jahren nicht hätte vorstellen können; ein Ticket für zweieinhalb Stunden Achterbahnfahrt durch eine Welt der überbordenden Sinneseindrücke, welche nun eben das allererste Mal in der Geschichte des Kinos auch zum Greifen nah ist. Anders gesagt: Der Zuschauer ist mittendrin, befindet sich selbst in einem Avatar auf Pandora. Noch anders gesagt: Träumen mit offenen Augen.

"Avatar" hebt den phantastischen Film auf eine völlig neue Stufe der Suggestivität und ist ein Zeugnis von überragender technischer und inszenatorischer Handwerkskunst. Das nächste Mal bitte mit einer ebenso verblüffenden Story.

ca. 8 von 10 Punkten



Samstag, 26. Dezember 2009

Where the Wild Things Are (Kino Review)



Where the Wild Things Are


Wer ist nicht mit Maurice Sendaks Kinderbuchklassiker "Wo die wilden Kerle wohnen" aufgewachsen? Viele, die mit dem sturköpfigen kleinen Max Kindheitserinnerungen teilen, werden wohl ihre fürchterlichen Augen gerollt, ihre fürchterlichen Zähne gefletscht und ihre fürchterlichen Krallen gezeigt haben, als sie hörten, dass Sendaks Buch bei Warner Bros. verfilmt werden soll, noch dazu mit einem Budget von 100 Millionen Dollar.

Handlung:
Der kleine Max rebelliert gegen seine Umwelt, so gegen seine Schwester, die lieber mit ihren Freunden unterwegs ist, und gegen seine geschiedene Mutter, die einen neuen Freund mit nach Hause bringt. Er flüchtet in eine Phantasiewelt, die von wilden, überdimensionalen Kreaturen bevölkert wird. In seiner Wut gelingt es ihm, sich von ihnen zu ihrem König krönen zu lassen, doch schon bald merkt Max, dass ihm seine Mutter fehlt.
(frei nach Wikipedia)

Möchte man dieses Buch wirklich als auf eineinhalb Stunden ausgewalzten, massenverträglichen und weichgespülten Kinofilm sehen? Sendak persönlich konnte das glücklicherweise verhindern, indem er als Produzent ein Vetorecht zugesprochen bekam und auf die Wahl von niemand geringerem als Spike Jonze (Adaptation., Being John Malkovich) für den Regieposten bestand. Als im April 2006 die Dreharbeiten begannen, hatte Jonze ein grosses Team von kreativen Filmschaffenden um sich gesammelt und spätestens zu diesem Zeitpunkt war klar, dass hier nicht der Film im Begriff zu entstehen war, den sich das Studio vorgestellt hatte. So wundert es nicht, dass Gerüchte von grösseren Meinungsverschiedenheiten durch die Presse geisterten und der fertige Film erst dieses Jahr in den Kinos anlief. Der Film sei zu düster für Kinder, hiess es, und tatsächlich kann man nicht bestreiten, dass Jonze in vielerlei Hinsicht eher ein Film über statt für Kinder gemacht hat. Nichtsdestotrotz darf es als grosses Glück bezeichnet werden, dass sich Sendak und Jonze schlussendlich durchsetzen konnten.

Where the Wild Things Are ist ein Kinderfilm geworden, der in seiner Ästhetik und Erzählweise mehr an eine Produktion aus der Independent-Ecke denn aus einem Mainstreamstudio erinnert. Ein Indiz dafür ist, dass Jonzes Film praktisch ausschliesslich in der Dämmerung oder in der Nacht spielt, während man in einem Kinderfilm gleissendes Tageslicht gewöhnt ist. Entscheidend ist auch die Besetzung des kleinen Max mit seinem Namensvetter, dem damals neunjährigen Max Records. Allein die Tatsache, dass ein einzelnes Kind einen ganzen Film auf den Schultern tragen muss, hätte in Hollywood seit jeher schwere Kopfschmerzen verursacht - sind Kinder doch unberechenbar und nur selten für differenzierte Rollen geeignet, geschweige denn so belastbar wie erwachsene Schauspieler. Doch in Records hat Jonze ganz offensichtlich eine Idealbesetzung gefunden. Es ist schlicht und einfach fantastisch, wie unglaublich einfühlsam, unverkrampft und glaubwürdig Max wirkt im Gegensatz zu all den gequälten Gesichtern der Blockbuster-Kinderdarsteller, wenn sie auf Befehl Emotionen ausdrücken sollten.

Ihm zur Seite stehen die wilden Kerle, grosse zottelige Monster, die mit einer Mischung aus Animatronics und digitalen Effekten realisiert wurden. Der Kontakt mit diesen an Schrulligkeit nicht mehr zu übertreffenden Charakteren bildet den Kern des 94 Minuten langen Filmes, wobei es jedoch nur wenige Minuten dauerst, bis sie dem Zuschauer auf Gedeih und Verderben ans Herz gewachsen sind.
Anrechnen darf man das wiederum Jonze, der zusammen mit Dave Eggers auch das Drehbuch verfasst hat, was angesichts der Textlänge der Buchvorlage von zehn Sätzen sicherlich keine leichte Aufgabe war. Auch hier ist es ein Glück, dass die Autoren den Mut hatten, sich vom Text wegzubewegen und eine eigenständige Geschichte für die Leinwand zu erzählen, statt der Vorlage sklavisch zu folgen. Dadurch sprüht der fertige Film in jeder Sekunde eine einzigartige Kreativität aus, die sich auch im kleinsten Detail, etwa wenn die Falten einer Bettdecke ein von gigantischen Wellen zerfurchtes Meer bilden, manifestiert. Dazu lässt sich in erster Linie auch die Idee zählen, dass jeder der wilden Kerle einen bestimmten emotionalen Aspekt von Max' Welt verkörpert, sei es nun der Drang, alles kaputt zu machen, der Hang, über alles zu meckern, oder einfach der Wunsch, geliebt zu werden. Er steht nun vor der Aufgabe, über all diese unterschiedlichen Emotionen Herr zu werden, was selbstverständlich alles andere als leicht fällt - wie es eben ist, wenn man ein Kind ist. Oder, um es mit den Worten von Mary Pols (Time Magazine) zu sagen: Freud würde diesen Film lieben.

Was "Where the Wild Things Are" ausserdem von einem gewöhnlichen Kinderfilm unterscheidet, ist die Ernsthaftigkeit, mit der sich Jonze seinem jungen Protagonisten nähert: Nicht eine Sekunde hat man als Zuschauer das Gefühl, über Max zu stehen. Viel mehr taucht man durch das Kameraauge ein in seine naive, unschuldige Welt, wo ein Iglu noch etwas saumässig Cooles ist - weil es ein Zufluchtsort darstellt - und wo man das Gefühl hat, die grossen Erwachsenen hören einem auch gar nie zu. Allein in den ersten Minuten des Filmes bringt Jonze die Essenz des Kindseins mit einer Einfühlsamkeit auf den Punkt, die ihresgleichen sucht. Mit eindringlichen Handkamera-Aufnahmen und melancholischen, angenehm un-stereotypen Bildern findet er die richtige Balance zwischen der Unsicherheit in einer Welt, die sich viel zu schnell verändert, und dem Spass, den ein Kind empfindet, wenn es neue Dinge entdeckt, Fantasiewelten aufbaut oder einfach nur Radau macht. So breiten sich Max' Abenteuer zu einem Wechselbad der Gefühle aus; Traurigkeit, Enttäuschung und Angst, aber auch Freude, Geborgenheit und - abseits jeglichem Kitsch - Liebe. Zusammen mit dem schlichten, aber eingängigen Soundtrack von Karen O ist "Where the Wild Things Are" ein wunderschöner Film geworden, und eine gelungene Buchverfilmung noch dazu.

Und auch wenn die Zielgruppe schlussendlich eher unter den Erwachsenen zu suchen ist, so erfüllt der Film doch seine Hauptaufgabe, indem er ein besseres Verständnis zwischen Eltern und Kind ermöglicht. Erstere lehrt er, ihre Sprösslinge (und deren Fantasieprodukte) ernst zu nehmen, Zeit für sie zu haben und ihnen nicht immer gleich das Gefühl zu geben, alles falsch zu machen. Letztere lehrt er, statt davonzulaufen Verantwortung zu übernehmen und zu akzeptieren, dass Handlungen Konsequenzen haben, dass man Veränderungen nicht aufhalten kann und dass nicht immer die ganze Welt das tut, was man gerne möchte.
Am Ende, als sich Max auf den Heimweg macht, hat er gelernt, dass man manchmal nur deswegen eine geliebte Person beisst, weil man schlicht und einfach Angst hat. Aber es gehört beides zum Leben, sowohl das mutwillige Zerstören als das mühsame, langwierige Aufbauen.

"Where the Wild Things Are" ist ein gleichsam federleichter wie schwermütiger Film über das Kindsein, der den Zuschauer mit verträumter Atmosphäre und einem grandiosen Hauptdarsteller zu verzaubern vermag.

ca. 9 von 10 Punkten