Montag, 23. Februar 2009

3D-Film und digitales Kino



3D Kino - die Technik der Zukunft?

Man liest ja immer häufiger über 3D-Kino und als ich erfuhr, dass der Animationsfilm Bolt in Zürich im Kino Abaton 3D gezeigt wird, wollte ich mir diese Chance nicht nehmen lassen. Ich wurde nicht enttäuscht. Nebst der Tatsache, dass der Film meine Erwartungen übertraf, machte diese neue Technik einen ausgesprochen guten Eindruck auf mich.

Dabei ist 3D-Kino ganz und gar nicht "neu". Schon 1922 wurde der erste Stummfilm dreidimensional präsentiert, indem man mit dem Anaglyphen-Verfahren eine Bildtrennung durch Farbfilter vornahm. Wie an dem Beispiel unten zu erkennen, wurden also sozusagen zwei Versionen des jeweiligen Bildes projiziert - anfangs in den Farben Rot und Blau, später vor allem Rot und Grün - und durch eine Brille mit Polfiltern erreicht, dass nur das jeweils polarisierte Licht zum gewünschten Auge gelangt. Das Ziel war, dass man mit dem linken Auge das eine, mit dem rechten Auge das andere Bild sieht, namentlich den gefilmten Gegenstand aus zwei verschiedenen Perspektiven.

3D-Bild mit dem Anagylpheverfahren

Der resultierende räumliche Effekt war damals zwar noch nicht ganz ausgereift, ziemlich teuer und erst Jahrzehnte später überhaupt in Farbe zu bestaunen, dennoch erlebte die 3D-Technik in den 50er-Jahren ihren ersten Höhepunkt. Neben Techniken wie dem Cinerama-Film (Panoramafilme) liessen sich die grossen amerikanischen Filmstudios in dieser Zeit einiges einfallen, um gegen die Konkurrenz des neu entstandenen Fernsehens anzukämpfen und die Zuschauer zurück ins Kino zu locken. Doch das Vorhaben wurde nicht von Erfolg gekrönt, der kurze Boom ging vorüber und der 3D-Film verschwand wieder von der Bildfläche.

Die Gründe, warum sich 3D-Kino nicht durchsetzte, sind vielschichtig. Das Verfahren ermöglichte damals lediglich schwarzweisse Projektion, war anstrengend für die Augen, äusserst unflexibel, da der Winkel zwischen dem Zuschauer und der Leinwand zu stimmen hatte, und natürlich sehr teuer, allein weil man die Kinos auf metallisch beschichtete Leinwände umrüsten musste. Die Technik war schlicht noch nicht ausgereift genug für diesen grossen Schritt.
Nach Jahrzehnten, während denen der 3D-Film ein Nischendasein in Jahrmärkten oder Ähnlichem und weitere misslungene Wiederbelebungsversuche erdulden musste, scheint die Welt im neuen Jahrtausend nun endlich breit zu sein für dieses Wunderwerk. Es ist kein Zufall, dass die Studios gerade jetzt damit beginnen, im grossen Stil auf die neue Technik umzusatteln. Mehr noch, die aktuelle Situation birgt erstaunliche Parallelen zu derjenigen der 50er. Heute wie damals sieht sich die Kinobranche einer gewachsenen Konkurrenz der anderen Medien gegenüber, sei es das Fernsehen oder das Internet, woraus ein gewisser Innovationstrieb resultiert, mit dem das Kino seine Sonderstellung und somit sein Überleben sichern will.

Und es scheint tatsächlich so, als würden es die Studios dieses Mal ernst meinen mit dem 3D. Erleichternd hinzu kommt nämlich, dass sich durch die Umstellung sämtlicher Bereiche der Filmproduktion auf digitale Methoden sowieso die ganze Branche im Umbruch befindet. Zwar werden heute noch immer die meisten Kinofilme mit der guten alten analogen Technik aufgenommen, die meisten Studios haben jedoch schon die Vorteile des Digitalen erkannt und rüsten für die Zukunft. Dass diese früher oder später rein digital sein wird, steht eigentlich ausser Frage. Dank Pionieren wie Michael Mann, George Lucas, Robert Zemeckis und James Cameron wurde die Entwicklung vorwärtsgetrieben und dem breiten Publikum erste Appetithäppchen der zukünftigen Möglichkeiten dargeboten, siehe Collateral oder Beowulf.
Die grossen Hollywood-Studios gründeten den Dachverband Digital Cinema Initiative (DCI), der sich seit 2006 vermehrt dafür einsetzt, in den Kinos auf digitale Projektion umzusteigen. Allein bis 2007 wurden in der USA 4000 Kinosäle von den mechanischen Einflüssen befreit. Bis Ende 2010 sollen 10'000 weitere weltweit folgen.

Solche Bilder erreicht man nur mit digitalen Kameras:
"Collateral" von Michael Mann

Was hat das nun mit 3D-Film zu tun? Ganz einfach, mit den DLP-Projektoren, Marktführer in digitaler Projektion aus dem Hause Texas Instruments, lassen sich in ganz normalen Kinos auch 3D-Filme abspielen (also ohne, dass zwei Projektioren nötig wären) und noch dazu mit besserem Effekt denn je zuvor. Das neuste Zauberwort heisst Real D Cinema.

Grundsätzlich wird beim Real-D-Verfahren die Technik der klassischen 3D-Filme benutzt. Das heisst, es müssen noch immer sogenannte Polarisationsbrillen getragen werden, welche jedoch mit moderner Technik anders polarisiert werden, nämlich zirkular (Uhrzeigersinn = rechtes Auge, Gegenuhrzeigersinn = linkes Auge). Die Bildfrequenz ist mit 72 pro Sekunde pro Auge extrem hoch (ein normaler Film besteht aus 24 Bildern pro Sekunde) und stellt sicher, dass der Film räumlich und flüssig wahrgenommen werden soll. Die Hardware übrigens stammt - was für eine Überraschung - wiederum von Texas Instruments. Das Ergebnis ist, dass das 3D-Erlebnis bedeutend flexibler geworden ist, da nun eine Kopfbewegung nicht gleich den räumlichen Effekt zerstört, selbstverständlich in Farbe zu geniessen ist und dank der starken Kostenreduzierung ("nur" 50'000 Dollar pro Kinosaal) für eine grosse Anzahl Kinos erschwinglich wurde. Eingesetzt wird Real-D bisher vor allem von Disney unter der Marke Disney Digital 3-D, welches in erster Linie seine Animationsfilme dreidimensional zeigt.

Genug Theorie! Die eigentliche Frage ist doch; wie wirkt dieses neue Wunderwerk? In einem Wort: Fantastisch. Bolt war mein erster Spielfilm, den ich in 3D gesehen habe, und ich war schwer beeindruckt. Zuvor hegte ich die Befürchtung, dass hinter all dem technischen Schnickschnack die wahren Qualität eines Filmes endgültig begraben und die modernen Effekte um ihrer selbst willen eingesetzt werden würden, doch glücklicherweise war die Neugier stärker. Denn im Gegenteil, ein bedacht eingesetzter 3D-Effekt ist genau das, als was ihn Filmemacher George Lucas rühmt: "Eine neue Dimension des Erlebens für jeden Film." Der räumliche Effekt unterstützt die Geschichte eines Filmes.
Am Beispiel "Bolt" haben die Macher Können bewiesen, indem sie den 3D-Effekt wohldosiert, unauffällig und unaufdringlich gestalteten. In den meisten Szenen beschränkt er sich lediglich darauf, dass die Köpfe der Charaktere vom Hintergrund abgehoben wurden, doch allein dies ergibt schon einen räumlichen Effekt, der, gerade weil er bequem und natürlich wirkt, geradezu fühlbare Atmosphäre schafft. Dies mag sich etwas banal anhören, richtig eingesetzt ist dies aber gewiss eine mächtige Waffe. Und dann gibt es natürlich auch noch diejenigen Szenen, in denen der 3D-Effekt auf extreme Weise zum Tragen kommt und den Zuschauer zusammenzucken lässt, etwa wenn ein Gegenstand auf die Kamera zufliegt. Grandios!

Es ist Zeit für ein Fazit. Natürlich werde ich ab jetzt nicht nur noch 3D-Filme sehen gehen, aber ich habe Gefallen an dieser Technik gefunden - das sollte nun langsam klar geworden sein. Bewusst eingesetzt, wird dem Zuschauer damit wirklich noch ein Schritt mehr in Sachen Filmerlebnis geboten. Ich empfehle jedem, der dies bisher noch nicht getan hat, dem dreidimensionalen Film eine Chance zu geben.
Mit regem Interesse werde ich jedenfalls die weitere Entwicklung dieses Branchenzweigs verfolgen und freue mich auf kommende Grossprojekte in der dritten Dimension, allen voran James Camerons heiss erwarteter Avatar. Es wird sich zeigen, ob dies der Anbruch eines neuen Kinozeitalters ist.

3D! Ich will mehr 3D!

Links:

Samstag, 21. Februar 2009

Bolt (Kino Review)



Bolt

Unter den Filmen, welche dieses Jahr für den Oscar für das "Best animated feature" nominiert sind, befindet sich neben WALL-E und Kung Fu Panda auch Bolt, der neue Streich aus dem Hause Disney. Dieser kam nicht nur in der USA nach dem eher verhaltenen Erfolg von Meet the Robinsons ausgenommen gut an.

Der Film handelt von einem Hund namens Bolt, der Hauptdarsteller einer gleichnamigen, berühmten Fernsehserie ist. In dieser Serie ist er ein Superhund mit unglaublichen Kräften, mit denen er regelmäßig Penny, ein Mädchen, das sowohl in der Serie als auch im wahren Leben Bolts liebende Besitzerin ist, vor dem bösen grünaugigem Mann und dessen Organisation rettet. Bolt spielt schon sein ganzes Leben seinen Charakter in der Serie, so dass er glaubt die Filmsets, Abenteuer und seine Kräfte seien echt. Um die Einschaltquote der Serie zu verbessern, lässt man Penny am Ende der Staffel entführen – Bolt hält dies natürlich auch für echt. Durch einen unglücklichen Zufall entkommt Bolt kurz darauf vom Set und landet am anderen Ende der USA. Zusammen mit einer Strassenkatze und einem fanatischen Hamster macht er sich auf, um seine Penny aus den Händen des Bösen zu befreien.
(frei nach Wikipedia)

Grundsätzlich muss man ja sagen, dass alle Studios im Animationsgeschäft deutlich im Schatten des übermächtigen Pixar stehen. Während jenes Jahr für Jahr Qualitätsware wie "The Incredibles", Ratatouille oder "WALL-E" produziert, gelingt dies Dreamworks, Sony und Disney nur hin und wieder. Mehr noch, seit Shrek 2 (2004) ist ihnen eigentlich nichts mehr gelungen, das von mir ein "sehr gut" erhalten würde. Auch bei "Bolt" vermutete ich erst einmal, hier wieder den Pixar-typischen, warmen Charme zu vermissen, und ging vor allem einmal wegen dem 3D-Erlebnis ins Kino.

Und tatsächlich, sobald der Film begonnen hat, werden die Erwartungen auf das Folgende etwas heruntergeschraubt angesichts der sehr langen Einstiegsszene in Form von Daueraction einer wilden Verfolgungsjagd. Diese ist zwar auf dem neusten Stand der Technik umgesetzt und erfreut jedes Bubenherz, ob jung oder alt, ich dachte mir aber, dass hier schon noch etwas mehr kommen müsste. Dies geschah dann glücklicherweise auch.

Die Grundidee von "Bolt" mag alles andere als neu sein, schon gar nicht in diesem Genre: Ein Protagonist, der während der Geschichte in einer Art Odyssee zu seinem Besitzer zurückzukehren sucht, das kenn man schon ausreichend aus zahlreichen Filmen wie "Toy Story 2", "Findet Nemo" oder dem namensähnlichen Balto. Das einzig wirklich neue Element in "Bolt" ist folglich die Thematik mit seiner Rolle als Fernsehstar, dies reicht aber erstaunlicherweise auch.
Es fällt nämlich sehr bald auf, dass der Film mit viel Engagement und Liebe gemacht ist. Dies bezieht sich zum einen auf die Gestaltung der gesamten Umgebung, steht und fällt aber natürlich mit der Charakterzeichnung. Anfangs sorgt alleine die Situation, dass sich Bolt in der "richtigen Welt" - ala Enchanted selbstverständlich in New York - wiederfindet und mit seinen geglaubten Superkräften allerhand witzige Einlagen auslöst, für Unterhaltung. Danach geht man nach dem bewährten Tim-und-Struppi-Prinzip vor: Bietet der Held zwecks möglichst grosser Identifikation eher wenig Charakter und Kanten, so müssen halt starke Nebencharaktere her. Und da hat "Bolt" so einiges in petto. Neben zahlreichen kleinen, aber witzigen Figuren wie dem schleimigen Anwalt oder den Tauben sorgt vor allem Mittens, die zynische und unfreiwillig in das Abenteuer einbezogene Katze, für den nötigen Gegenpol zu Bolt. Dadurch entsteht schon einmal eine hervorragende Chemie, welche die als Roadmovie aufgebaute Geschichte trägt. Der heimliche Star des Filmes ist jedoch Rhino (im Deutschen Dino), der fernsehbesessene Hamster und fanatische Fan Bolts, welcher die grössten Lacher für sich verbuchen kann.

Die natürlich nicht besonders überraschende Story wird durch ein konstant hohes, aber nicht künstlich übertriebenes Tempo und viele kleine Einfälle und Andeutungen straff gehalten und entwickelt sehr bald viel Tiefe und Atmosphäre. Denn die Macher wusste anscheinend genau, wann sie sich immer wieder etwas zurücknehmen und sanfte Töne anschlagen mussten. Dazu kommt, dass mit der Thematik Hollywood generell angenehm selbstkritisch umgegangen wird. "Bolt" ist sicher kein Meisterwerk, unterhält aber besser und ehrlicher als die meisten anderen Animationsfilme.
Wer Schuld daran hat, wird ganz am Ende dann auch noch deutlich, als im Abspann der Name John Lasseter zu erspähen ist. Der Creative Director von Pixar und Regisseur von Werken wie "Cars" oder "Toy Story" fungierte hier als Produzent. Es war also doch Pixar, möchte man mit einer "Das-erklärt-einiges"-Miene meinen.

"Bolt" ist ein ausgezeichneter Animationsfilm, der mit viel Witz und Gefühl die Wartezeit auf den nächsten grossen Pixarfilm verkürzt.

ca. 8 von 10 Punkten

Siehe auch:

Slumdog Millionaire (Kino Review)



Slumdog Millionaire

Morgen ist es so weit, dann werden die viel umworbenen Oscars verteilt. Zwar heimste The Curious Case of Benjamin Button die meisten Nominierungen ein, als Kronfavorit insbesondere für die Hauptkategorie "Bester Film" gilt jedoch Slumdog Millionaire.

Der in Indien gedrehte Film handelt vom bisher größten Tag im Leben von Jamal Malik: Nur noch eine Frage trennt ihn vom Hauptpreis, den 20 Millionen indische Rupien, in der Fernsehsendung „Who Wants to Be a Millionaire?“. Doch warum sollte ausgerechnet ein ehemaliger Straßenjunge aus Mumbai als erster die Millionenfrage richtig beantworten? Für den Moderator der Show, Kumar Prem, gibt es keinen Zweifel, dass es sich bei Jamal um einen schamlosen Betrüger handelt. Doch in Rückblenden werden Abschnitte aus Jamals bewegtem Leben erzählt, welche seine ganz persönliche Beziehung zu jeder einzelnen Frage verdeutlich. Alles beginnt im Armenviertel des ehemaligen Bombays mit einer Schulstunde über das Buch "Die drei Musketiere"...
(frei nach Wikipedia)

Dass es sich bei Danny Boyle um einen Ausnahmeregisseur handelt, ist unbestritten. Zwar hat sich der Brite auch schon mal Fehlgriffe geleistet und mag nicht ganz so durchschlagend erfolgreich sein wie etwa sein Landsmann Christopher Nolan (The Dark Knight), konnte jedoch stets mit seinem eigenwilligen visuellen Stil punkten. Und nach dem furios-genialen Trainspotting war man auch gewillt, ihm das eine oder andere zu verzeihen. Es ist ihm jedenfalls zu gönnen, dass er mit "Slumdog Millionaire" einen verblüffenden Überraschungserfolg verzeichnen konnte. Der lediglich 15 Millionen Dollar teure Film mit keinem einzigen bekannten Darsteller startete in der USA anfangs nur in ganz wenigen Kinos und wurde von der grossen Masse kaum wahrgenommen. Dank geradezu euphorischen Kritiken und Mund-zu-Mund-Propaganda stiegen die Besucherzahlen jedoch stetig an und spätestens, als er am 11. Januar für zehn Oscars nominiert wurde, hatte jeder von dem Film gehört.

Es ist auch überaus offensichtlich, weshalb "Slumdog Millionaire" sowohl das amerikanische Publikum als auch die Mitglieder der Oscar-Academy derart begeistert. Nicht erst seit Rocky ist es weltbekannt, dass sogenannte "Underdog-Geschichten" in Übersee eine besondere Stellung haben, da diese eskapistischen "Vom-Tellerwäscher-zum-Millionär"-Märchen den amerikanischen Traum am deutlichsten überhaupt verkörpern. "Slumdog Millionaire" macht allein schon im Titel klar, dass er sich genau in dieser Schublade gehört - "Slumdog" ist schliesslich die abwertende Bezeichnung der Slumbewohner Mumbais. Und der Film fühlt sich ausserordentlich wohl dort. Seine Handlung ist so banal wie effektiv, da Drehbuchautor Simon Beaufoy genau weiss, was die Merkmale solcher American Dream-Filme sind und wie auf geschickte Weise mit ihnen zu spielen ist. Die entscheidende Eigenschaft von "Slumdog Millionaire" ist und bleibt schlussendlich der orientalische Flair, den er durch Indien als Standort seiner Geschichte erhält. Basierend auf dem indischen Roman Q & A, liegt der Erfolg des Filmes vermutlich in dem Prinzip zu Grunde, dass er die Merkmale eines klassischen amerikanischen Kinomärchens, eine bewegte Lebensgeschichte, in ein ungewohntes Umfeld versetzt. Es schien Boyles Anliegen gewesen zu sein, einen Film zu drehen, der sowohl offensichtlich typisch indisch als auch amerikanisch ist. Eine Zelluloid-Hochzeit von Bollywood und Hollywood sozusagen.

Dies ist ihm auch ausgesprochen gut gelungen. Zum einen bietet "Slumdog Millionaire" unzählige unverkennbare Bollywood-Aspekte, am deutlichsten in der Liebesgeschichte zwischen Jamal und Latika, zum anderen wurde auch stets darauf geachtet, dass Berührungsängste auf der Seite des westlichen Publikums vermieden werden. Somit wurden etwa Tanz- und Singszenen gänzlich vermieden und Jamal so charakterisiert, dass er im Sinne der westlichen Mentalität sofort Vertrautheit und Sympathie weckt. Ähnliches spielt sich auf formaler Ebene ab, wo die opulenten, farbenfrohen Bilder Indiens mit dem modernen Inszenierungsstil von Boyle kombiniert wurden, was eine äusserst interessante Mischung ergibt.

Zwar ist "Slumdog Millionaire" kein Blockbuster der grossen amerikanischen Filmstudios, sondern eine Independentproduktion und somit ein eher überraschender Kronfavorit der kommenden Oscarverleihung, ihn dem Arthous-Kino zuzuordnen, wäre dennoch mehr als abwegig. Schlussendlich möchte Boyle in erster Linie einen publikumswirksamen Film machen, der die Massen begeistert. Dieses Mainstream-Anliegen spiegelt sich auch deutlich in der Handlung wieder, welche im Endeffekt alles andere als ungewöhnlich oder innovativ ist. Doch vielleicht ist genau dies der Trick von "Slumdog Millionaire" - er verpackt seinen simplen, ehrlichen und unschuldig anmutenden Kern in eine mit vielen Ideen und aussergewöhnlicher Handwerkskunst ausgestattete Hülle. Das macht ihn dann auch für die Academy so attraktiv. Die Handlung ist wie erwähnt simpel, doch Simon Beaufoy - zuvor schon für The Full Monty mit einer Oscarnomination geehrt - erzählt sie sehr gekonnt, nämlich so verschachtelt, dass jeweils zu jeder Frage in einem Rückblick der Lebensabschnitt Jamals erzählt wird, welcher ihm die richtige Antwort "liefert". Trotz Vorhersehbarkeit stellt sich dies vor allem in der ersten Hälfte als lumpenrein spannend heraus. Was dem Film bei der Academy auf jeden Fall ebenfalls Pluspunkte verschaffte, ist seine Naivität und die Tatsache, dass er sich dessen stets bewusst ist. Je länger je mehr "Slumdog Millionaire" auf sein von überdeutlichem Eskapismus geprägtes Ende zuschreitet, so platziert Beaufoy dazu geschickt auch ein Fragezeichen zwischen den Zeilen, während in der ersten Hälfte der Sog der Story zu einem grossen Teil durch das energiegeladene Wechselspiel zwischen aus Kinderaugen gefilmten Feelgood-Szenen und vergleichsweise harten Szenen entsteht, die dann doch wieder das brutale, dreckige Leben in den Slums schonungslos darstellen.

Der eigentliche Meister am Werk war jedoch Danny Boyle selbst. Er schafft es, durch seine kennzeichnende Handkamera-Optik, dem immensen Tempo des Filmes und der Atmosphäre, die beinahe greifbar das Gefühl von orientalischen Orten vermittelt, "Slumdog Millionaire" zu einem reinen Genuss zu machen, welcher den Zuschauer an einem grauen Regentag die Welt da draussen vergessen lässt. Dies beginnt schon mit der ersten Sekunde des zweistündigen Filmes, als sich der Zuschauer nach einem kurzen Prolog plötzlich in einer wilden Verfolgungsjagd durch die heruntergekommenen Baracken der Slums wiederfindet. Es sind die Actionszenen, die mit der hektischen Kameraführung und dem wahnsinnig hämmerndem Sound ein pulsierendes, unglaublich heftiges Tempo entwickeln, das ohne wenn und aber mitreisst. Ab da ist man dabei, klammert sich am Kinosessel fest und fiebert mit Jamal mit - genau wie die Zuschauer von "Who Wants to be a Millionaire?".
Ohne Frage, "Slumdog Millionaire" ist ein visueller Rausch sondergleichen, mit vielen guten Ideen, augenzwinkerndem Humor, wirkungsvollem Soundtrack und passenden Schauspielern kombiniert, die eigentliche Frage bleibt jedoch: Ist die Euphorie in Übersee deswegen gerechtfertigt? Tatsächlich muss man ehrlich betrachtet zugeben, dass Boyle nicht viel mehr als ein innovativ umgesetztes Feelgood-Movie abgeliefert hat. Bis zum Ende vollständig zu überzeugen vermag "Slumdog Millionaire" leider nicht, geschweige denn erreicht er eine filmhistorisch bedeutende Grösse wie Nolans Meisterwerk The Dark Knight.
Aber spielt das wirklich eine Rolle? Kann man sich nicht einfach bedenkenlos zurücklehnen und Danny Boyles neuster Film geniessen? Doch, das kann man, sehr gut sogar. Schlussendlich bleibt "Slumdog Millionaire" eine farbenfrohe Verschmelzung der Kulturen, eine ehrliche, kraftvolle Liebesballade zwischen Shahrukh Khan und Moulin Rouge. Dies darf meinetwegen auch mit einigen Goldmännchen gewürdigt werden.

"Slumdog Millionaire" ist ein Kinomärchen, das mitreisst. Nicht mehr, nicht weniger.

abgerundet ca. 8 von 10 Punkten

Mittwoch, 18. Februar 2009

Brad Pitt



Die Emanzipation des Brad Pitt - Ein Portrait

Aus aktuellem Anlass möchte ich hier einige Worte über einen ganz besonderen Filmschauspieler loswerden. In den letzten Wochen habe ich - eigentlich zufällig - vier Filme mit ihm gesehen, nämlich Fight Club, The Curious Case of Benjamin Button, "Snatch" und "Twelve Monkeys". Nach diesen vier sehr guten Filmen fühle ich mich nun endgültig bestätigt, dass Brad Pitt einer meiner absoluten Lieblingsschauspieler ist.

Darf man so etwas überhaupt laut aussprechen, ohne seinem Stolz als Mann adé zu sagen? Man darf nicht nur, man muss. Es ist die Pflicht eines jeden Filmfans, der etwas von guten Schauspielern hält, dafür einzustehen, damit auf die Strasse zu gehen und für die Emanzipation des Brad Pitt zu kämpfen. Denn Brad Pitt ist nicht das Eigentum von kreischenden dreizehnjährigen Mädchen, die zu Hause ein lebensgrosses Poster von seinem nackten Oberkörper neben David Beckham an der Wand hängen haben und sein Autogramm nachts mit sich ins Bett nehmen. Brad Pitt ist kein Tom Cruise, der in oberflächlichen Kriegsdramen mitspielt und die Aufgabe hat, einen strahlenden Hollywoodglanz auf die Leinwand zu bringen. Brad Pitt ist nicht der gelbhaarige Schönling mit den vollen Lippen, der als Teenie-Idol hormonstimulierenden Zeitschriften ziert. Zumindest ist er das nicht mehr. Längst nicht mehr.

Denn er selbst kämpft schon seit über zehn Jahren gegen dieses Image an, und dabei müssen wir ihn unterstützen. Nach Auftritten in Fernsehserien wie "Dallas" und seinem Leinwand-Durchbruch in "Thelma & Louise", worauf er in stereotypischen Hollywoodfilmen wie "Legends of the Fall" und "A River Runs Through It" mitspielte, schien das Bild des jugendlichen Draufgängers in allen Köpfen festgesetzt zu sein. Wenn es in diesem Geschäft einen Nachteil hat, blendend auszusehen, dann war es Brad Pitt, der ihn zu spüren bekam. Mitte der 90er Jahre tat er jedenfalls einiges, um den ihm anhaftenden Stereotyp loszuwerden, und konzentrierte sich auf zahlreiche ungewöhnliche Rollen. Ob er es damit wirklich ernst meinte, darf jedoch bei allem guten Willen auch bezweifelt werden, ansonsten hätte er kaum auch später noch Rollen wie "The Mexikan", "Ocean's Eleven" oder "Troy" angenommen. Es wäre schliesslich falsch, Brad Pitt zu einem Rebellen wie Sean Penn hochzustilisieren, der sich ernsthaft gegen das System Hollywood auflehnt. Pitt ist und bleibt ein Hollywoodstar, einer der Grössten unserer Zeit noch dazu. Was ihn jedoch von den meisten seiner Kollegen abhebt, ist eben die Tatsache, dass er mit seinem offensichtlich geschickten Händchen für Rollenauswahl immer wieder in aussergewöhnlichen Filmen zu sehen ist, wo er jedes Mal sein immenses und vielseitiges Talent unterstreicht.

Natürlich ist in Brad Pitts Filmographie viel Schrott und Durchschnittskost zu finden - mir gefällt er jedoch auch dort meistens überdurchschnittlich gut. Dies fängt an mit dem teilweise lächerlichen und gnadenlos überzogenen "Interview mit einem Vampir" und hört auf mit der noch nicht abgeschlossenen "Oceans"-Trilogie. Es fällt jedoch auf, dass sich Pitt mit dem Alter - der Mann ist schliesslich schon 45 - offenbar auch gereifter und entgegen der Erwartungen seiner Fans präsentieren möchte. Im Kontrast zu anderen Erfolgsverwöhnten versucht er nicht, auf der Leinwand an der vergangenen Jugend festzuklammern, sondern lässt sein Äusseres in "Babel" und "The Curious Case of Benjamin Button" sogar künstlich altern. Während er in letzter Zeit vermehrt in ernsten, weniger sonnenbefleckten Erwachsenenrollen seine Präsenz zu markieren weiss, so ist es gleichzeitig auch ein Glück für den interessierten Filmkonsument, dass Pitt sich wieder mehr für komödiantische Rollen zu interessieren scheint. Hat er doch schon in "Twelve Monkeys" oder "Snatch" gezeigt, dass er in dieser Hinsicht eine grosse Portion Talent besitzt und eine ganz eigene, angenehm unkonventionell körperbetonte Form von (Blödel-)Humor zu transportieren weiss, so war es ein Genuss, ihn letztes Jahr als komischen Vogel in "Burn After Reading" zu sehen, und ist ein Grund, warum man dem neuen Tarantino-Film "Inglorious Basterds" mit hohen Erwartungen entgegensehen kann. Dort spielt Pitt schliesslich den Chef eines Himmelfahrtskommandos, das im "Nazi-occupied France" mit den Deutschen abrechnen soll.

Man darf gespannt sein auf die zukünftigen Projekte von Brad Pitt. Neben "Inglorious Basterds" dreht er gerade den Terence Malick-Film "The Tree of Life", wo er neben Sean Penn spielt, während etwa der Science Fiction-Film "The Sparrow" oder eine Neuauflage von Homers Odysseus-Geschichte erst in der Gerüchteküche brodeln. Auch nicht unwesentlich ist, wie sich Pitts Privatleben auf seine weitere Karriere auswirken wird. Unlängst natürlich ist das Traumpaar "Brangelina" mit seiner Fussballmannschaft von adoptierten Kindern ein Top-Thema in den Klatschmedien und in dem ganzen Rummel scheint Brad ganz hinter seiner starken Angelina zu verschwinden. Auf der Leinwand hingegen hat er noch ganz klar die Nase vorn, weshalb es ihm trotz geringen Erfolgschancen zu gönnen wäre, dieses Jahr endlich einen - zumindest für das Lebenswerk sicherlich verdienten - Oscar zu gewinnen.

Der Mann mit den vielen Gesichtern

Zwar habe ich längst nicht alle Filme von Brad Pitt gesehen - so stehen etwa "Se7en", "True Romance" und "Meet Joe Black" noch auf meiner Warteliste - dennoch folgt nun eine Liste von den sechs meiner Meinung nach besten und abwechslungsreichsten seiner Rollen:


Eine verdiente Oscarnominierung erhielt Pitt für seine Leistung im furiosen Zeitreisefilm 12 Monkeys von Terry Gilliam. Er spielt den Verrückten Jeffrey Goines, den die von Bruce Willis verkörperte Hauptrolle in einer Irrenanstalt trifft. Pitt recherchierte sehr genau über das Verhalten von psychisch kranken Menschen und konnte so den schon einmalig geschriebenen Charakter mit einer grandiosen Mischung aus Verwirrtheit, kindischem Tatendrang und psychopathischer Intelligenz entfalten. Abgefahren!


Pitts kultigste Rolle. In David Finchers Meisterwerk Fight Club verkörpert er die legendäre Figur des Tyler Durdens, die Manifestation der menschlichen Triebe, der unwiderstehliche und geniale Führer, der die Fight Clubs ins leben ruft. Auch hier soll sich Pitt voll und ganz in seine Rolle hineingelebt zu haben und es kursieren Geschichten wie die, dass er und Edward Norton in der Szene, da sie zusammen betrunken Golf spielen, tatsächlich betrunken gewesen sein sollen.


In Alejandro González Iñárritus existenzialistischem Drama Babel spielt Pitt nur eine kleine Rolle neben vielen unbekannten Gesichtern. Und trotzdem gelingt es ihm, dass man für einmal vergisst, den grossen Hollywoodstar vor sich zu sehen, und ihm den verzweifelten, hoffnungslosen Ehemann, der seine verwundete Frau retten möchte, voll und ganz abnimmt.


Ein Film, der sich voll und ganz um die mythenumwobene, legendäre und heldenhafte Figur des Outlaws Jesse James dreht, funktioniert gewiss nur mit dem richtigen Hauptdarsteller. Andrew Dominiks melancholischer Kunstwestern The Assassination of Jesse James by the Coward Robert Ford entfaltet auch tatsächlich nur deshalb seine grandiose Wirkung, weil das Zusammenspiel zwischen Casey Affleck und Brad Pitt so gut funktioniert. Pitt beeindruckt hier mit einer unvergesslichen Darbietung, welche der zerrissenen, düsteren und paranoiden Figur des Jesse James eine verblüffende Tiefe verleiht. Meiner Meinung nach Pitts bisher beste Leistung.


In Burn After Reading von den Coen-Brüdern zeigt Pitt, dass er auch als Nebenrolle den ganzen Film dominieren kann. Eigentlich muss ich meinem Review nichts mehr hinzufügen. Pitts witzigste Rolle. 



Der Film The Curious Case of Benjamin Button ist David Finchers dritter Zusammenarbeit mit Brad Pitt. Das zweite Mal spielt er neben Cate Blanchett und zeigt, dass er sich auch einmal zurücknehmen kann und noch hinter einer Tonne Maske zu überzeugen vermag.

Weitere Rollen: 

Hier mögen sich die Geschmäcker spalten, ich jedenfalls finde, dass Brad Pitt den griechischen Superhelden Achilles im bildgewaltigen Schlachtepos Troy von Wolfgang Petersen keineswegs schlecht umgesetzt hat und einen schönen Kontrastpunkt zu Eric Bana abgibt. 

Pitt als Agent Tom Bishop in Tony Scotts spannendem Polit-Thriller Spy Game

Pitt als undurchsichtiger Zigeunerschläger Mickey O'Neil in Guy Ritchies rabenschwarzer Komödie Snatch. Unbedingt auf English ansehen! 

Pitt in der Rolle des Bergsteigers Heinrich Harrer im Historienfilm Seven Years in Tibet.  

Pitt als Detective David Mills in David Finchers düsterem Mystery-Thriller Se7en

Pitt als Rusty Ryan in der Oceans-Trilogie. Ehrlich gesagt, ich bevorzuge Mark Wahlbergs Italian Job, aber das lieg eher an Steven Sonderbergh als an Brad Pitt. 

Können Filmgefühle auch echt sein? - Brad Pitt und Angelina Jolie in der oberflächlichen Actionkomödie Mr. & Mrs. Smith

Gegen so viel Lächerlichkeit kommt auch Brad Pitt nicht an - als Vampir Louis de Pointe du Lac in Interview mit einem Vampir


Eigentlich Grund genug um ins Kino zu gehen - Brad Pitt als Lt. Aldo Raine in Tarantinos Traumprojekt Inglorious Basterds

Montag, 16. Februar 2009

The Curious Case of Benjamin Button (Kino Review)



The Curious Case of Benjamin Button

David Fincher ist bekanntlich immer für eine Überraschung gut. Nach grossartigen Werken wie Fight Club oder Zodiac durfte man der Verfilmung von Roman-Gigant Scott Fitzgeralds Kurzgeschichte The Curious Case of Benjamin Button mit hohen Erwartungen entgegensehen. Diese schienen sich nachdrücklich zu bestätigen, als der Film mit den Superstars Brad Pitt und Cate Blanchett in den Hauptrollen am 22. Januar für sagenhafte 13 Oscars nominiert wurde.

Handlung:
Benjamin Button ist bei seiner Geburt im Jahre 1918 in New Orleans von seinem Geist und seiner Körpergröße her ein Baby, trägt jedoch die körperlichen Merkmale eines alten Menschen (körperliche Gebrechen, Alterssichtigkeit usw.). Er gleicht einem 85-jährigen Mann und wird im Laufe seines Lebens immer jünger. Benjamins Mutter stirbt bei der Geburt und der vom Anblick seines Sohnes entsetzte Vater, ein reicher Fabrikant, legt das Kind an der Schwelle eines Altenpflegeheims ab. Die afroamerikanische Betreiberin nimmt das Findelkind auf und es wächst dort auf. Im Heim lernt Benjamin als Kind die fünf Jahre junge Daisy – die Enkelin einer Heimbewohnerin – kennen.
(frei nach Wikipedia)

Wider Erwarten fällt es relativ schwer, Finchers neuen Film in eine Sparte einzuordnen. Grundsätzlich wäre man nämlich gewillt, ihn ob der zahlreichen eindeutigen Hollywood-Merkmale - eine persönliche Handlung vor dem Hintergrund historischer Ereignisse, eine lange verhinderte Liebe, ein oder zwei grosse Filmstars, grosses Budget, Gefühlsbetonung etc. - in das klischeebeladene Fach der grossen, klassischen Leinwand-Epen zu packen, die von Natur aus auf die Oscarverleihung schielen, wie etwa "Out of Africa", "The English Patient" oder Forrest Gump. Doch wenn man sich im Kino befindet, beschleicht einen sehr bald das Gefühl, dass man Finchers Film damit nicht gerecht würde. Dies beginnt und endet vermutlich mit der gelungenen Wahl der Hauptdarsteller - durch Pitt und Blanchett zwei Grössen, die zuvor schon unter Beweis gestellt haben, dass sie mit ihrem Können auch aus vermeintlich oberflächlichen Schinken einiges herauszuholen vermögen. Vor allem Dank dem zurückhaltenden, differenzierten Schauspiel von Pitt driftet "The Curious Case of Benjamin Button" nie in überzogene Dramatik ab. Hinzu kommt, dass Fincher dem Film ein erstaunlich gemächliches Tempo zu Grunde gelegt hat. Das Endergebnis ist ein Werk, das gewiss für die grossen Säle und Massen angelegt ist, jedoch zu jedem Zeitpunkt von - mindestens - einem Hauch von Anspruch getragen wird und recht konsequent sein eigenes Ding durchzieht - notfalls auch zwei Fingerbreit abseits des Mainstreams.

Und trotzdem, gerade weil Fincher die Story durch und durch als Märchen für Erwachsene erzählt, entpuppt sich "The Curious Case of Benjamin Button" schlussendlich als Erlebniskino in Reinform, das in erster Linie seine Zuschauer verzaubern und im Fluss der Geschichte mitschweben lassen will. Obwohl die Weltreise des Benjamin Button - übrigens eine herrliche Alliteration - überaus gemächlich beginnt, gelingt dies gerade im ersten Drittel des Filmes ausgezeichnet. Die Geschichte nimmt ihren Lauf in den Südstaaten der Zeit nach dem ersten Weltkrieg, wo Benjamin unter wunderlichen Umständen aufwächst - in einem Altersheim, in der Allgegenwärtigkeit des Todes, der Vergänglichkeit. Hier macht der Film auch am meisten Spass, dank der paradoxen Situation, dass der Zuschauer zusammen mit Benjamin das Leben von der umgekehrten Richtung als gewohnt kennenlernt. Wie Benjamin, voller kindlicher Neugier in seinen vermeintlich alten Knochen, langsam aber sicher die Welt ausserhalb des Heimes zu erkunden beginnt und sich immer weiter aus dem Fenster wagt, gepaart mit feinem, unterschwelligen Humor, so wird das Ziel hundertprozentig erreicht, den Zuschauer mit diesem curious case mitfühlen und mitleben zu lassen.
Sobald sich Benjamin dann zur See begibt, kommt neuer Schwung in die Story, jedoch immer noch ohne jeglichen Drang zur Hektik oder Effektlastigkeit. Im Endeffekt hat "The Curious Case of Benjamin Button" keine schnelle, laute Erzählweise nötig, weil die Geschichte, die er erzählt, eine ruhige Geschichte ist. Es ist die Geschichte zweier Menschen, die im Laufe ihres Lebens eine in bizarrster Weise gegensätzliche Entwicklung vollziehen und beide auf jeweils ihre Art den unaufhaltbaren Veränderungen unterworfen sind.

Natürlich, es geht in dem Film um die Zeit, die Vergänglichkeit und den Tod, anderseits auch um den freien Entscheidungswillen des Menschen, bleibende Momente, Hoffnung, Träume und die Liebe, aber letztendlich spielt das für Fincher gar keine so grosse Rolle. Ihn interessiert weniger das was und warum, denn das wie. Statt in vielschichtiger Weise die Bedeutung der Situation des Rückwärtslebens auszuloten, will er in erster Linie eine Geschichte, ein Märchen erzählen.
Abgesehen von der Grundidee, welche aus der Kurzgeschichte stammt, lässt sich "The Curious Case of Benjamin Button" nämlich mehr als formales denn als inhaltliches Ereignis bezeichnen. Das Drehbuch ist vor allem in der ersten Hälfte zwar sehr charmant und solide, bietet jedoch nicht viel neues - schon gar nicht im direkten Vergleich mit Robert Zemeckis' Meisterwerk Forrest Gump. Die offensichtlichen, nicht wegzuschweigenden Parallelen liegen wahrscheinlich daran, dass mit Eric Roth beide Male der selbe Autor am Werk war. Es ist somit Finchers Verdienst, dass sich Benjamin trotzdem in seinem Gesamtbild stark von Forrest abhebt.
Finchers Markezeichen, Atmosphäre und Optik, bringt er hier einmal mehr beinahe zur Perfektion. Als glühender Verehrer und Verfechter von Spezialeffekten war er hier offensichtlich bestrebt, etwas aus dem Budget (150 Mio Dollar) herauszuholen, das man so bisher noch nicht auf der Leinwand gesehen hat. Gelungen ist ihm dies ganz ohne Frage. Durch unverwechselbare Farbgebung, Lichtführung und Kulissen entsteht eine bemerkenswerte Atmosphäre, welche den grandiosen Bildern einen ganz eigenen, magischen Touch verleiht. Fincher versucht gar nicht erst, die CGI-Lastigkeit seines Filmes zu verstecken, sondern benützt diese bewusst als Stilmittel. Nicht nur die digital restaurierten, historischen Orte sind ein Augenschmaus, auch die extreme Alterung und Verjüngung von Brad Pitt wurde fabelhaft umgesetzt. Formal gesehen ist "The Curios Case of Benjamin Button" von A bis Z tiptop.

Damit gelangt man aber wieder an den Punkt, der das eigentliche Problem des Filmes darstellt: Inhaltlich ist da manchmal nicht wahnsinnig viel los. Nach einer sehr guten ersten Hälfte, hängt die Geschichte in der zweiten ab und zu etwas, worüber auch ein noch so grosser Aufwand von Finchers Seite nicht hinweg täuschen kann. Man könnte sogar behaupten, je näher die als Rückblende erzählte Story dem eigentlichen Handlungsstrang in der Gegenwart kommt, je mehr verliert der Film seine Magie und seinen schrulligen Charme. Tatsächlich bekommt man gegen Schluss sogar den Eindruck, die letzte Lebensphase von Benjamin wurde etwas lustlos abgehakt. Gerade, wenn man den Vergleich mit "Forrest Gump" zu Rate zieht, fällt auf, dass weder die einzelnen Episoden im Detail völlig überzeugen, noch der Zeitgeist des jeweiligen Jahrzehnts vergleichsweise spürbar eingefangen wurde. Auch die eigentliche Figur des Benjamin Buttons scheint mit der Zeit leicht vernachlässigt zu werden, wobei die beiden interessantesten Nebenfiguren, die Heimbetreiberin Queenie und der Kutterkapitän Daws, ihre besten Momente ebenfalls vor der Pause haben.

Wirklich langweilig oder belanglos ist Finchers Film deswegen aber trotz allem zu keinem Zeitpunkt. Alleine dank einem unverwechselbaren Brad Pitt wird das Ziel erreicht, den Zuschauer psychisch mit Benjamin mitwachsen zu lassen. Zusammen mit einer gewohnt soliden Cate Blanchett bilden die beiden ein Leinwand-Traumpaar, das sich dennoch nie im Kitsch verläuft und dem man gerne auch knappe drei Stunden zusieht. Ausserdem bietet der Film ohne Frage einige spezifische Szenen, die ausserordentlich gut gelungen sind. Stellt sich jedoch die Frage nach den Oscars, so muss man einräumen, dass der Film zwar im technischen Bereich Auszeichnungen verdient hat, aber kaum als besten Film des Jahres in Frage kommt. Allerdings wäre ein Goldmännchen für David Fincher, sei es auch nur als Würdigung vergangener Arbeiten, auch nichts abwegiges.

"The Curious Case of Benjamin Button" ist Kinomagie pur, optisch brilliant und vor allem in der ersten Hälfte von schrulligem Charme beflügelt, teilweise jedoch inhaltlich zu seicht. Ein Film über die Unvergänglichkeit der Liebe im unaufhaltbaren Wandel der Zeit.

ca. 8 von 10 Punkten

PS: Did I ever tell you I was struck by lightning seven times?

Changeling (Kino Review)



Changeling

Altstar Clint Eastwood ist seit Jahren ein sicherer Lieferant für Qualitätsware, sei es mit Mystic River, Million Dollar Baby oder Letters from Iwo Jima. Mit Changeling, der Verfilmung der wahren Geschichte von Christine Collins, bleibt er seinem Stil treu und legt ein weiteres beeindruckendes Werk vor.

Handlung:
Los Angeles im Jahr 1928. An einem Samstagmorgen verlässt die alleinerziehende Mutter Christine Collins das Haus und geht zur Arbeit. Bei ihrer Rückkehr ist ihr Sohn Walter verschwunden.
Fünf Monate später wird ein neunjähriger Junge gefunden, der behauptet, Christines Sohn zu sein. Doch während die Polizei (LAPD) ihren Erfolg feiert, ist sich Christine sicher, dass dieser Junge nicht ihr Sohn ist.
(frei nach Wikipedia)

Gibt es gross etwas zu sagen? Eigentlich nicht. Manche mögen dies als Negativpunkt werten, Clint Eastwood liefert jedenfalls das, was man von ihm erwartet: Einen Film mit düsterer, eindringlicher Inszenierung, spannendem, ausgereiftem Drehbuch und im vollem Masse zur Geltung kommenden Schauspielern. Von Fliessbandarbeit zu sprechen, wäre auf jeden Fall verfehlt, aber es fällt positiv auf, mit welcher Souveränität und Erfahrung Eastwood ans Werk geht. Am auffälligsten ist dies beim Cast, welcher mit sicherer Hand ausgewählt wurde und beachtlich harmoniert. Nebenrollen wie Jeffrey Donovan, Jason Harner oder selbstverständlich John Malkovich überzeugen einwandfrei, während das Hauptaugenmerk natürlich auf Angelina Jolie liegt. Allein schon optisch eignet sie sich verblüffend für die 20er-Atmosphäre des Filmes und schafft es auch schauspielerisch, ihre teilweise nicht einfache Rolle auszufüllen. Möglicherweise vermag sie nicht vollständig zu brillieren und den Oscar am Ende einer Konkurrentin überlassen zu müssen, die schwierige Aufgabe, den kammerspiel-artigen Film auf ihren Schultern zu tragen, meistert sie jedoch bemerkenswert.

Wie so oft geht es Eastwood um die Grundwerte des Menschen, um Gerechtigkeit, um Schuld, um Würde. Auf diese Zeitperiode bezogen thematisiert der Film vor allem die Korruption der Polizei und des Bürokratiestaates und die damalige politische und gesellschaftliche Ohnmacht der Frauen. Das Drehbuch von J. Michael Straczynski besticht durch sorgfältige Recherche, viel Spannung ohne Effekthascherei, messerscharf gezeichnete Charaktere und einen mitreissenden Sog der Story. Vermutlich hätte man an der Gesamtstruktur noch etwas feilen können, und dass der Film zwischen den Episoden das Genre zu wechseln scheint, könnte als ungewohnt auffallen. Zusammen mit Eastwoods konsequentem, zielbewussten Regiestil, den er in den letzten Jahren entwickelt hat, und den bedrückenden Bildern, die das historische Los Angeles wieder aufleben lassen, ist jedoch ein grosses Drama entstanden, das zeitweise eine schonungslose, entwaffnende Intensität erreicht. Ein Film, der an stilistisch oder inhaltlich an Werke wie "Mystic River", "Zodiac" oder "Chinatown" erinnert.

"Changeling" ist ein überragendes Drama, so düster, erwachsen und intensiv, wie es zurzeit wohl nur Clint Eastwood fertig bringt. Klassisches Schauspielkino mit einer kraftvollen Angelina Jolie.

ca. 9 von 10 Punkten

Kinojahr 2009


Neues Jahr, neues Glück. Auf die Welt des Kinos bezogen hoffe ich, nach dem grossartigen letzten Jahr 2009 wieder zahlreiche Qualitätsware und echte Kunstwerke sehen zu können. Hier habe ich bereits eine kleine Vorschau auf die ersten beiden Monate des Jahres präsentiert. Auf dieser Seite finden sie nun jeweils die aktuelle, verlinkte und chronologisch geordnete Liste aller Filme, die ich dieses Jahr im Kino gesehen habe.



Waltz with Bashir (Kino Review)

Nach einer kleinen Ferienpause folgt nun endlich ein lange aufgeschobenes Review eines Filmes, den ich im Dezember des letzten Jahres geniessen durfte. 


Waltz with Bashir

Animationsfilme gibt es nicht wenige. Ebenso Dokumentarfilme, geschweige denn Kriegsfilme. Aber ein animierter Doku-Kriegsfilm, das ist doch mal etwas neues. Wird der Oscar für den besten fremdsprachigen Film dieses Jahr nach Innovation gemessen, so müsste der israelische Film Waltz with Bashir die Nase eigentlich vorne haben. Was Regisseur Ari Folman hier abliefert, hat man bisher in solcher Form noch nicht gesehen.

Handlung:
Folman (als Trickfilmfigur) reflektiert in einer Kneipe mit seinem Freund Boaz Rein-Buskila über dessen Albtraum mit einer großen Meute von 26 zähnefletschenden Hunden, der ihn immer wieder im Zusammenhang mit ihrem gemeinsamen Einsatz als Soldaten im ersten Libanonkrieg 1982 heimsucht. Folmans Erinnerungen daran sind jedoch verdrängt und werden im Laufe des Filmes erst nach und nach freigegeben. Dabei hilft ihm sein Freund Ori Sivan. Befragungen von anderen Kriegsteilnehmern (Ronny Dayag, Carmi Cna'an, Shmuel Frenkel und Dror Harazi) sowie Kriegsreporter Ron Ben-Yishai rekonstruieren das reale Geschehen, das schlussendlich im Massaker eines Flüchtlingslagers mündete.
(frei nach Wikipedia)

Vier Jahre war Folman mit diesem Filmprojekt beschäftigt und erzählte in einem Interview, dass ihn diese Zeit zutiefst aufgewühlt hat. Sein Ziel schien es offensichtlich zu sein, dieses Gefühl dem Zuschauer weiterzugeben. Dazu wurde aufgrund der Interviews, die er geführt hatte, erst einmal ein Drehbuch geschrieben, in dem gewisse Szenen selbstverständlich zwecks Dramatisierung ergänzt werden mussten. Folman lag es schliesslich am Herzen, viel mehr als einen "schlichten", realistischen Dokumentarfilm zu drehen. Nach einem aufwändigen Storyboard, das die jeweils von den Zeitzeugen erzählten Ereignisse in bildliche Formen brachte, begannen mehrere internationale Illustratoren, die Bilder zu zeichnen, die dann mittels Computer animiert wurden. Allein dieser Geniestreich macht "Waltz with Bashir" zu einem der aussergewöhnlichsten Filmereignisse des Jahres. Die entstandenen Bilder zeichnen sich durch einen eigenwilligen, kontrastreichen, berauschenden und doch glaubhaften Comicstil aus und vermögen es, eine unglaublich fesselnde Atmosphäre zu transportieren. Grandios ist nicht nur die Farbgebung, die künstlichen Kameraeinstellungen und die absichtlich langsame Bewegungsart der Figuren - was natürlich auch durch das Budget bedingt ist, welches sich nicht einmal annähernd mit dem eines Pixar-Filmes messen kann - sondern auch die fantastische Vermischung von zwei- und dreidimensionalen Effekten.

Die Waffe der digitalen Gestaltung weiss Folman auch mit scheinbar optimaler Wirkung einzusetzen. Er thematisiert den Krieg nämlich nicht auf politischer, philosophischer Ebene, sondern hauptsächlich aus dem Blickwinkel der Personen, die ihn hautnah erleben. Und durch die Vermischung mit beispiellosen Traumsequenzen und horrorartigen Hallizunationen, welche die Verdrängung von schrecklichen Erlebnissen der Einzelnen hervorgebracht hat, bekommt auch der Zuschauer das Gefühl, die Strände des Libanons und die von Leuchtstoffraketenlicht gespenstig beleuchteten Hochhausruinen von Beirut hautnah zu erleben. Wer hätte erwartet, dass gerade ein Film, der mit einer surrealen Ästhetik um sich wirft, dem Zuschauer den Kriegshorror so nahe bringt wie selten zuvor einer?
Dadurch, dass auch die privaten Hintergründe der Charaktere beleuchtet werden und in vielen Szenen das Lebensgefühl der 80er-Jugendkultur auf bestechende Weise eingefangen wurde, kann der Zuschauer eine beachtliche Nähe zu den aus künstlichen Formen bestehenden Charakteren aufbauen. Gerade in den teilweise absurden, von bitterbösem Humor gezeichneten Szenen beginnt man zu verstehen, wie unfassbar dieser Krieg für die jungen Teilnehmer war. Man beginnt zu verstehen, warum Folman seine eigenen Erinnerungen verdrängt hat. Wenige Filme bringen es fertig, den Zuschauer angesichts realer Ereignisse derart mitzureissen und emotional aufzurütteln.

Zum Glück glänzt "Waltz with Bashir" nicht nur durch formales Neuland, sondern auch durch einen wichtigen Inhalt, der einem noch lange schwer im Magen zu liegen scheint. Mit einem glänzenden, spannenden Drehbuch wurden die realen Interviews verknüpft und durch passende Szenen ergänzt. Einer der Gründe, warum sich Folmans Film kaum für die grosse Masse eignet, ist der Luxus, den er sich nimmt, Hintergrundwissen auf der Seite des Zuschauers vorauszusetzen. Im Film wird etwa nicht erklärt, wie sich der Krieg genau auf dem politischen Parkett abgespielt hat, geschweige denn, warum und wodurch es zum Nahostkonflikt gekommen ist. Folman appelliert an das Interesse des Zuschauers und fordert ihn gerade dazu auf, sich selbst zu informieren. "Waltz with Bashir" - übrigens benannt nach dem christlichen Milizenführer und libanesischer Politiker Bashir Gemayel, der am 14. September '82 ermordet wurde - ist ein anspruchsvoller Film, der zielstrebig auf sein beklemmendes, aufwühlendes Ende zuschreitet und ein historisches Ereignis schildert, das heute angesichts des neuen Gaza-Krieges aktueller ist denn je. Ein Werk, welches das englische Lobwort groundbreaking verdient.

Gibt es etwas zu kritisieren? Zumindest nichts, das gross von Bedeutung wäre. Allenfalls mag den einen oder anderen das Gefühl beschleichen, dass Folman etwas zur Selbstinszenierung neigt, und auch die Animationen stehen nicht immer auf hundertprozentig sicherem Bein, vor allem wenn es darum geht, Szenen aus der Gegenwart umzusetzen. Aber solche Makel vermag der Film, der übrigens möglichst auf hebräisch anzusehen ist, allein schon durch seinen ausgezeichneten Soundtrack wegzuwischen.

"Waltz with Bashir" ist nicht nur ein hoch brisanter Dokumentarfilm, sondern auch ein innovatives Stück Film, das dem Zuschauer gleichzeitig die Jugendkultur der 80er und die Schrecken des Krieges in einem faszinierenden visuellen Rausch näher bringt.

ca. 9 von 10 Punkten

Sonntag, 1. Februar 2009

Fight Club (Special)



You DO NOT talk about Fight Club

oder

Planet Tyler

Hinweis: Dieser Text enthält offene Spoiler und ist jedem, der den Film noch nicht kennt, nachdrücklich abgeraten!

Bei Filmreviews bewerte ich grundsätzlich nicht, ob der jeweilige Film eine Eintagsfliege ist, oder ob man ihn immer und immer wieder ansehen kann. Dies kann allerdings im positiven Bereich schlussendlich viel Gewicht haben; ich könnte sogar behaupten, dass sich richtig herausragende Filme dadurch auszeichnen, dass man bei jedem Mal etwas Neues entdeckt. Anderseits rechne ich es Filmen aber nicht negativ an, wenn sie wie beispielsweise Cloverfield vor allem wegen dem erstmaligen Überraschungseffekt begeistern. Prädestiniert dafür, einem One-Night-Stand gleichzukommen, sind wohl vor allem jene Filme, die hauptsächlich auf eine möglichst verblüffende Schlussauflösung setzen. So ist etwa bei Identity die Luft beim zweiten Mal vermutlich ziemlich draussen (ich weiss es nicht, da ich ihn erst einmal gesehen habe). Wenn ein solcher Film jedoch beim zweiten Mal noch mehr fesselt als beim ersten, dann ist das schon eine Leistung.

Vor ziemlich genau einem Jahr habe ich das erste Mal David Finchers Fight Club gesehen. In meinem Review, zu finden hier, habe ich damals erwähnt, dass er mir allein schon auf technischer Ebene sehr gut gefallen hat, habe aber auch durchscheinen lassen, dass mich die Handlung etwas überfordert und verwirrt zurückliess. Diesen Negativpunkt habe ich mir nun zu Brust genommen, indem ich Finchers Meisterstück gestern noch einmal unter die Lupe genommen habe. Und tatsächlich - Liebe auf den zweiten Blick.

Das Hauptmotiv von "Fight Club" ist Manipulation, so viel sein schon einmal vorweg genommen. Ähnlich wie The Usual Suspects ist der Film eine Täuschungsaktion, ein Zaubertrick, um den Zuschauer bis zur ultimativen Endauflösung hinters Licht zu führen. Wenn man also ein zweites Mal an die Sache rangeht, dann will man vor allem einmal untersuchen, wie und warum man diesem pfiffigen Lausbubenstreich zum Opfer gefallen ist.

Sehr bald wird einem klar, wie unglaublich geschickt David Fincher, respektive Drehbuchautor Jim Uhls oder Autor der Romanvorlage Chuck Palahnuik die Sache angestellt haben. Mehr als einmal will man sich mit der Hand an die Stirn schlagen, "Das war doch klar!" rufend, und gleichzeitig ist man fasziniert, wie geschickt all die kleinen Hinweise eingeflochten sind. Dies fängt schon an in der Szene am Flughafen, als Tyler Durden das erste Mal auftritt, während der Erzähler im Off spricht: "Could you wake up as a different person?" Auffällig auch die eigentliche Szene im Flugzeug, als Tyler durch eine geschickte Kamerabewegung hinter dem Erzähler "zum Vorschein kommt". Dazu kommen unzählige, mehr oder weniger eindeutige Hinweise wie die identischen Aktenkoffer, lediglich einmal gelöste Bustickets, die an sich ungewöhnlichen Zeitsprünge oder generell die jeweiligen Reaktionen der Umstehenden auf Szenen zwischen Tyler und dem Erzähler.
Es ist wirklich erstaunlich, dass man trotz allem nicht auf die Idee kommt, den Twist zu erahnen. Aber wie sollte man auch? Der Erzähler - der übrigens nie mit Namen genannt wird - wird ab der ersten Minute als durchschnittlicher Bürogummi charakterisiert, während Tyler, so mysteriös er auch sein mag, als bodenständiger, überaus cooler Typ daherkommt. Durch die schillernden Konflikte, das ständigen Konkurrenzieren dieser Figuren, die bruchstückhafte Erzählweise und den generellen Sog des Filmes ist man getrost abgelenkt.


"Fight Club" ist gewiss kein Film, den man mögen muss. Im Gegenteil, wie es sich Fincher geradezu einen Spass daraus macht, gängige Konventionen zu brechen, ist nicht jedermanns Sache. Das impliziert etwa den sehr eigenwilligen Humor, die nicht selten bizarre Inszenierung und - vor allem - all die brutalen Szenen, wie man es an realistischer Gewaltdarstellung selten sieht. Trotzdem lässt Fincher dem Zuschauer nicht die Wahl, ob er sich nun in seinen Film hineinfühlen möchte, sondern reisst ihn schmerzhaft mit, hinein in die Abgründe modernen Konsumgesellschaft - ob es ihm gefällt oder nicht.

Seine Intensität verdankt der Film in erster Linie einmal seinem grandiosen Script. Nicht zuletzt wegen all den kultigen Sprüchen und dem derben, aus absurden Situationen und satirischen Einfällen resultierenden Humor gehört Tyler Durden zu den berüchtigtsten Filmcharakteren überhaupt und hat längst Kultstatus erreicht. Dass der Film ziemlich spannend ist, muss wohl gar nicht erst erwähnt werden. Fincher beweist hier endgültig, dass er zu den Visionären unter den Regisseuren gehört, indem er die filmischen Mittel wie Kameraführung, Lichtarbeit oder Bildkomposition allesamt in einer Art und Weise mit resultierender Wirkung einsetzt, die sich jeglicher Beschreibung zu entziehen scheint. Auch die für das Jahr 1999 verblüffend gelungenen Computereffekte und der Soundtrack von den Dust Brohters tragen zum Gesamtbild bei. Allein aufgrund der handwerklichen Kunstfertigkeit kann man sich "Fight Club" immer wieder ansehen. Der eigentliche Star des Filmes ist und bleibt jedoch Brad Pitt, in jeder Geste überzeugend und für die meisten hier wohl in seiner weitaus besten Rolle zu sehen. Er ergänzt sich ausgezeichnet mit Edward Norton und Helena Bonham Carter, ohne die der Film sicher auch nicht seine uns bekannte Dichte erreicht hätte.

Auch inhaltlich dreht sich eigentlich der ganze Film um die Faszination der Figur Tyler Durden. Als erstes stellt er ganz offensichtlich die Antithese zum Erzähler dar, der sich in seiner grauen Existenz langweilt und die innere Leere mit Konsumgütern zu stopfen versucht. Tyler, dieser smarte, obercoole und spontane Typ, ist alles, was sich der Erzähler jemals wünschte.
  • "All the ways you wish you could be, that's me. I look like you wanna look, I fuck like you wanna fuck, I am smart, capable, and most importantly, I am free in all the ways that you are not."
Tyler ist aber noch viel mehr. Er ist der Chaos-stifter schlechthin, der Bubentraum in personam, die leibhaftige Manifestation der menschlichen Triebe. In Freud'scher Manier inszeniert Fincher genüsslich das Aufeinandertreffen des Bürogummis, der die Loslösung vom abgestumpften Alltag nur im ehrlichen, gegenseitigen Mitleid einer Selbsthilfegruppe findet, und des ungezwungenen Machos, der sich ausschweifend der Körperlichkeit und der Zerstörung hingibt. Tylers Mission: Den Erzähler vom Materialismus befreien und ihm zeigen, was das Leben wirklich ausmacht.


Wie kein zweiter versteht es Fincher, das Innenleben einer Figur durch die jeweilige Umgebung zum Ausdruck zu bringen. Nachdem Tyler die von scheinheiligen IKEA-Möbel dominierte Wohnung und Sinnbild des spirituellen Gefangenseins des Erzählers in die ewigen Jagdgründe geschickt hat, ziehen sie zusammen in eine Bruchbude irgendwo fernab von jeglicher gepflegten amerikanischen Vorstadtsiedlung im Schrott (wo sie eigentlich schon seit einem Jahr nachts zugegen sind). Hier funktioniert nicht die geringste technische Einrichtung, alles ist konstant dreckig und unwirtlich, aber gerade deswegen auch irgendwie unkontrolliert und frei. War der Erzähler in der scheinbaren Perfektheit seiner vorigen Wohnung unglücklich, ist es nun genau umgekehrt. In diesem Haus, auf Tyler Durdens Planet, fühlt sich der Erzähler das erste Mal frei und glücklich - zumindest so lange, bis Marla wieder auftaucht. Später wird das Haus umfunktioniert zur Zentrale der "Space Monkeys", Tylers Armee, und auf Vordermann gebracht, um dem spartanischen Leben der Gemeinschaft den optimalen Rahmen zu bieten.

Denn sehr bald beginnt die Faszination Tyler Durden auf andere überzugreifen. Im Endeffekt bringt Tyler alle dazu, das zu tun, was er will. Im Laufe des Filmes ist anhand der beiden Hauptpersonen eine Art antiproportionaler Entwicklung feststellbar: Während sich der Erzähler immer mehr von Tyler beeinflussen lässt und seine äussere Erscheinung langsam aber sicher den Bach hinunter geht, scheint Tyler zumindest äusserlich aufzublühen.
So wie Tyler dem Erzähler dabei hilft, von seinem alten Leben wegzukommen, so gesellen sich nach und nach Männer zu ihnen, die am selben Problem leiden: Innerlich sind sie pubertäre Jungs, körperlich erwachsen, und wurden von der Gesellschaft in das Korsett der kleinbürgerlichen Existenz gezwängt, emotional abgestumpft, mit blinkenden Werbetafeln stillgestellt und von den Frauen enttäuscht. Sie arbeiten als Tankstellenwarte, Büroangestellte und Servierdiener, sie sind Sklaven des Geldes, sie sind die Opfer der wirtschaftlichen Hochkonjunktur. Bob, dargestellt vom bekannten Rocksänger Meat Loaf, verdeutlicht diese Verweichlichung und Verweiblichung des Mannes geradezu symbolisch mit seinen durch eine Hormontherapie gewachsenen Brüste.

Tyler symbolisiert dieses von Aussen und Innen unterdrückte Potential der Männer. Er entsteht sozusagen aus der Neurose des Erzählers, der Schlaflosigkeit, und versteht sich selbst als Heilmittel gegen die flächendeckende psychische Erkrankung der heutigen Gesellschaft. Tylers Grundlage ist, dass diese keine grossen Krisen mehr kennt: Keine Extremsituation weit und breit, wo der Mann um seine Existenz kämpfen müsste - der Tod wurde seiner Omnipräsentheit beraubt - stattdessen deckt man sich selbst mit den Auswüchsen der Kommerzindustrie zu und gibt sich der fadenscheinigen Hoffnung hin, eines Tages ein Übermensch zu werden. Und nach der Idee Tyler Durden ist genau diese Vorstellung des Übermenschen, welcher ein möglichst risikoloses, langes und glückliches Leben ohne Härten und Konflikte führt, der Grund allen Übels. Ganz im Sinne von Nietzsche setzt Tyler diesem Trugbild seinen Übermenschen entgegen, welcher durch Macht, Wille und Morallosigkeit definiert wird.


Das Hauptwerkzeug, mit dem Tyler die Fassade der modernen Gesellschaft einreissen will, ist der Schmerz. Die Männer im "Fight Club" finden in der allwöchentlichen physischen Grenzerfahrung ihre Selbstverwirklichung, sie finden in der Zugehörigkeit zur wertelosen Gruppe und dem sich der Allwissenheit Tyler Durdens Unterwerfen ihre scheinbare Vollkommenheit. Indem sie jegliche Bindung zum Materialismus kappen, glauben sie, ihrer natürlichen Indentität näher gekommen zu sein - ironischerweise gerade dadurch, dass sie sich dem Gehorsam ihres Führers unterordnen und sich ihrer Individualität berauben lassen.

Chaos und Schmerz sind der Weg,
Manipulation das Mittel,
Absturz das Ziel.

Tyler Durden reisst jeden mit, er bringt am Ende alle dazu, seinem Willen zu folgen. Manipulation ist sein Element. Seine Wirkung entfaltet er durch eingängige Reden, revolutionäres Auftreten und Ideen, die genau das ansprechen, was jedes einzelne Mitglied des Clubs schon für sich selbst irgendwann einmal gedacht hat. Genau dies hat schliesslich auch Hitler getan. Und genau wie die Bewegung der Nationalsozialisten fängt auch der "Fight Club" harmlos an, mit acht scheinbar leicht kontrollierbaren Regeln - bis das Ganze eine entsetzliche Eigendynamik entwickelt. Es ist offensichtlich, dass "Fight Club" nicht nur ein Film über Anarchie, Revolution und Society-Terrorismus, sondern auch über Faschismus ist.
Auf die Spitze treibt David Fincher sein Konzept der Manipulation, indem er - ähnlich wie Christopher Nolan in The Prestige - den Filmemacher durch den Filmcharakter Tyler verkörpern lässt. Fincher stellt die Manipulation nicht nur dar, er statuiert sozusagen ein Exempel am Zuschauer selbst, indem er ihn genau so wie die Männer, die dem "Fight Club" beitreten, mit Tylers Ideen in den Bann schlägt. Das beste Beispiel dazu ist wohl die schelmische Technik, welche Fincher im ersten Viertel des Filmes anwendet. Wird dem Zuschauer später erläutert, wie Tyler in seinen zynischen Aktionen einzelne Frames von Pornos in Kinderfilme einfügt, so ist dem Zuschauer nicht bewusst, dass er genau diesem Trick wenige Minuten zuvor selbst erlegen ist. Denn es braucht schon eine gehörige Portion Aufmerksamkeit, um zu erkennen, dass in praktisch jeder Schlüsselszene des ersten Aktes unerwartet - nur für den Bruchteil einer Sekunde - das Bild eines lässigen, grinsenden Tyler Durdens in den Film geschnitten wurde. Auf eine solche Idee muss man erst einmal kommen.
  • "Nobody knows that they saw it, but they did."

An sich ist Tyler jedoch an der vollkommenen Macht in Form von Herrschaft gar nicht interessiert. Zwar will er eine Revolte der unterdrückten Arbeiterschaft gegen die selbstgefällige, reiche Obrigkeit entflammen, dies jedoch nicht, indem er sie planmässig vernichtet, sondern indem er ihnen Angst macht, unkontrollierbare Ereignisse in Gang setzt und sie mit dem konfrontiert, das sie nicht verstehen.
Tyler bekämpft die moderne Gesellschaft mit ihren eigenen Mitteln. Hier erreicht "Fight Club" in seinem düsteren, brutalen Comic-Stil dann auch den Oylmp der absoluten, bitterbösen Satire. Der Erzähler etwa lebt als Sklave des Kommerzes von den Autounfällen, welche seine Firma - ein grosser Autohersteller, welcher nicht genannt wird - selbst verursacht, indem sie vorsätzlich defekte Teile produziert. Als wäre dies nicht Ironie genug, setzt Tyler dem nun entgegen, indem er der von Gier verdorbenen Oberschicht das verkauft, das sie selbst produzieren: Fett. Seife.

Das alles passt sehr gut zur Philosophie des Tyler Durdens, welche das Grundgerüst des ganzen Filmes bildet: Chaos und Schmerz sind der Weg, Manipulation das Mittel, Absturz das Ziel. Auf den Punkt bringt dies die vielleicht zentralste Zeile des ganzen Filmes:
  • "Only after disaster can we be resurrected."

Tyler will, dass wir endlich aufhören, allen Konflikten ausweichen zu versuchen, sondern dass wir sie geradezu herausfordern und tatkräftig den Absturz herbeiführen. Denn erst, nachdem wir ganz unten gewesen sind, nachdem wir eine Waffe am Kopf hatten und den Tod hautnah gespürt haben, können wir richtig bewusst leben. Die Loslösung von allen materiellen Gütern ist dabei nur der erste Schritt.
Die signifikanteste Szene dazu ist eine, die einem nicht unbedingt am meisten in Erinnerung bleibt: Tyler und der Erzähler befinden sich im Auto und fahren auf einer verregneten Autobahn. Da nimmt Tyler die Hände seelenruhig vom Steuer und drückt auf das Gaspedal. Mit brachialer Geschwindigkeit fährt er einfach darauf los, ohne die geringste Kontrolle über die Richtung, ohne die Möglichkeit, einem Hindernis auszuweichen, nur Herr über das Tempo der Vorwärtsgehens. Er ist sich bewusst, dass jeden Moment die Kollision kommen muss, doch er akzeptiert, dass es nicht in seiner Macht liegt, deren Zeitpunkt zu bestimmen. Für ihn spielt es keine Rolle, ob er jetzt stirbt oder nicht, weil er dann zumindest in seinem letzten Moment mehr gelebt hat als jemals zuvor in seinem Leben. In dieser endgültigen, kompromisslosen Herausforderung des Schicksals wird der Mensch zum Übermensch - nach Tyler Durdens Philosophie.

Natürlich gäbe es noch sehr viel zu schreiben über diesen Film. Es drängt sich zum Schluss aber vor allem eine bedeutende Frage auf: Ist "Fight Club" ein Faschistenfilm? Ist er reine Revolutions-Propaganda, die gegen die Hippiegeneration und Kommerzgesellschaft Stimmung macht?

Zum Glück nicht. "Fight Club" geht einen Schritt weiter: Der Film führt uns die ultimative Revolution gegen die kleinbürgerliche Existenz vor, manipuliert den Zuschauer genauso wie die Männer im Film, lässt uns fasziniert sein von diesem Tyler Durden und treibt uns zum Äussersten. Doch am Ende sieht der Erzähler und der Zuschauer ein, wie falsch Tylers Weg ist. Zwar kann der den Kollaps nicht verhindern - die Revolution ist unaufhaltbar - doch er hat seine unbefriedigende Existenz, den Tod, ja sogar Tyler Durden - sich selbst - überwunden. Schlussendlich hat er erkannt, dass Tyler trotz allem lediglich ein Teil von ihm darstellt; er hat erkannt, dass er der Mächtigere ist, dass er Tyler nicht braucht, dass - nach Freud gesprochen - sein "Ich" das "Es" bezwingen kann. Solange er wach und bei Verstand bleibt, kann er Tyler besiegen. Eigentlich hatte der Erzähler schon in dem Moment gewonnen, da er Marla gegenüber gestand, dass sie ihm etwas bedeute.
Zum Schluss löst er sich also endgültig von Tyler, indem er sich selbst eine Kugel in den Mund jagt, und ist nun bereit, wieder zu auferstehen und von ganz unten neu anzufangen - zusammen mit Marla. Nicht als egoistisches Triebwesen im Sinne Tylers, sondern als besserer Mensch, als freier und verantwortungsbewusster Mensch.

"Fight Club" verdient die Bezeichnung "Männerfilm" im wahrsten Sinne des Wortes. David Fincher ist ein brillantes, verblüffendes, bitterböses, mitreissendes, ein revolutionäres Werk gelungen. Eine Reise in den Abgrund, wie es wohl bisher noch nichts vergleichbares gab.

abgerundet ca. 9 von 10 Punkten


Weitere Bilder: