Samstag, 26. Dezember 2009

Where the Wild Things Are (Kino Review)



Where the Wild Things Are


Wer ist nicht mit Maurice Sendaks Kinderbuchklassiker "Wo die wilden Kerle wohnen" aufgewachsen? Viele, die mit dem sturköpfigen kleinen Max Kindheitserinnerungen teilen, werden wohl ihre fürchterlichen Augen gerollt, ihre fürchterlichen Zähne gefletscht und ihre fürchterlichen Krallen gezeigt haben, als sie hörten, dass Sendaks Buch bei Warner Bros. verfilmt werden soll, noch dazu mit einem Budget von 100 Millionen Dollar.

Handlung:
Der kleine Max rebelliert gegen seine Umwelt, so gegen seine Schwester, die lieber mit ihren Freunden unterwegs ist, und gegen seine geschiedene Mutter, die einen neuen Freund mit nach Hause bringt. Er flüchtet in eine Phantasiewelt, die von wilden, überdimensionalen Kreaturen bevölkert wird. In seiner Wut gelingt es ihm, sich von ihnen zu ihrem König krönen zu lassen, doch schon bald merkt Max, dass ihm seine Mutter fehlt.
(frei nach Wikipedia)

Möchte man dieses Buch wirklich als auf eineinhalb Stunden ausgewalzten, massenverträglichen und weichgespülten Kinofilm sehen? Sendak persönlich konnte das glücklicherweise verhindern, indem er als Produzent ein Vetorecht zugesprochen bekam und auf die Wahl von niemand geringerem als Spike Jonze (Adaptation., Being John Malkovich) für den Regieposten bestand. Als im April 2006 die Dreharbeiten begannen, hatte Jonze ein grosses Team von kreativen Filmschaffenden um sich gesammelt und spätestens zu diesem Zeitpunkt war klar, dass hier nicht der Film im Begriff zu entstehen war, den sich das Studio vorgestellt hatte. So wundert es nicht, dass Gerüchte von grösseren Meinungsverschiedenheiten durch die Presse geisterten und der fertige Film erst dieses Jahr in den Kinos anlief. Der Film sei zu düster für Kinder, hiess es, und tatsächlich kann man nicht bestreiten, dass Jonze in vielerlei Hinsicht eher ein Film über statt für Kinder gemacht hat. Nichtsdestotrotz darf es als grosses Glück bezeichnet werden, dass sich Sendak und Jonze schlussendlich durchsetzen konnten.

Where the Wild Things Are ist ein Kinderfilm geworden, der in seiner Ästhetik und Erzählweise mehr an eine Produktion aus der Independent-Ecke denn aus einem Mainstreamstudio erinnert. Ein Indiz dafür ist, dass Jonzes Film praktisch ausschliesslich in der Dämmerung oder in der Nacht spielt, während man in einem Kinderfilm gleissendes Tageslicht gewöhnt ist. Entscheidend ist auch die Besetzung des kleinen Max mit seinem Namensvetter, dem damals neunjährigen Max Records. Allein die Tatsache, dass ein einzelnes Kind einen ganzen Film auf den Schultern tragen muss, hätte in Hollywood seit jeher schwere Kopfschmerzen verursacht - sind Kinder doch unberechenbar und nur selten für differenzierte Rollen geeignet, geschweige denn so belastbar wie erwachsene Schauspieler. Doch in Records hat Jonze ganz offensichtlich eine Idealbesetzung gefunden. Es ist schlicht und einfach fantastisch, wie unglaublich einfühlsam, unverkrampft und glaubwürdig Max wirkt im Gegensatz zu all den gequälten Gesichtern der Blockbuster-Kinderdarsteller, wenn sie auf Befehl Emotionen ausdrücken sollten.

Ihm zur Seite stehen die wilden Kerle, grosse zottelige Monster, die mit einer Mischung aus Animatronics und digitalen Effekten realisiert wurden. Der Kontakt mit diesen an Schrulligkeit nicht mehr zu übertreffenden Charakteren bildet den Kern des 94 Minuten langen Filmes, wobei es jedoch nur wenige Minuten dauerst, bis sie dem Zuschauer auf Gedeih und Verderben ans Herz gewachsen sind.
Anrechnen darf man das wiederum Jonze, der zusammen mit Dave Eggers auch das Drehbuch verfasst hat, was angesichts der Textlänge der Buchvorlage von zehn Sätzen sicherlich keine leichte Aufgabe war. Auch hier ist es ein Glück, dass die Autoren den Mut hatten, sich vom Text wegzubewegen und eine eigenständige Geschichte für die Leinwand zu erzählen, statt der Vorlage sklavisch zu folgen. Dadurch sprüht der fertige Film in jeder Sekunde eine einzigartige Kreativität aus, die sich auch im kleinsten Detail, etwa wenn die Falten einer Bettdecke ein von gigantischen Wellen zerfurchtes Meer bilden, manifestiert. Dazu lässt sich in erster Linie auch die Idee zählen, dass jeder der wilden Kerle einen bestimmten emotionalen Aspekt von Max' Welt verkörpert, sei es nun der Drang, alles kaputt zu machen, der Hang, über alles zu meckern, oder einfach der Wunsch, geliebt zu werden. Er steht nun vor der Aufgabe, über all diese unterschiedlichen Emotionen Herr zu werden, was selbstverständlich alles andere als leicht fällt - wie es eben ist, wenn man ein Kind ist. Oder, um es mit den Worten von Mary Pols (Time Magazine) zu sagen: Freud würde diesen Film lieben.

Was "Where the Wild Things Are" ausserdem von einem gewöhnlichen Kinderfilm unterscheidet, ist die Ernsthaftigkeit, mit der sich Jonze seinem jungen Protagonisten nähert: Nicht eine Sekunde hat man als Zuschauer das Gefühl, über Max zu stehen. Viel mehr taucht man durch das Kameraauge ein in seine naive, unschuldige Welt, wo ein Iglu noch etwas saumässig Cooles ist - weil es ein Zufluchtsort darstellt - und wo man das Gefühl hat, die grossen Erwachsenen hören einem auch gar nie zu. Allein in den ersten Minuten des Filmes bringt Jonze die Essenz des Kindseins mit einer Einfühlsamkeit auf den Punkt, die ihresgleichen sucht. Mit eindringlichen Handkamera-Aufnahmen und melancholischen, angenehm un-stereotypen Bildern findet er die richtige Balance zwischen der Unsicherheit in einer Welt, die sich viel zu schnell verändert, und dem Spass, den ein Kind empfindet, wenn es neue Dinge entdeckt, Fantasiewelten aufbaut oder einfach nur Radau macht. So breiten sich Max' Abenteuer zu einem Wechselbad der Gefühle aus; Traurigkeit, Enttäuschung und Angst, aber auch Freude, Geborgenheit und - abseits jeglichem Kitsch - Liebe. Zusammen mit dem schlichten, aber eingängigen Soundtrack von Karen O ist "Where the Wild Things Are" ein wunderschöner Film geworden, und eine gelungene Buchverfilmung noch dazu.

Und auch wenn die Zielgruppe schlussendlich eher unter den Erwachsenen zu suchen ist, so erfüllt der Film doch seine Hauptaufgabe, indem er ein besseres Verständnis zwischen Eltern und Kind ermöglicht. Erstere lehrt er, ihre Sprösslinge (und deren Fantasieprodukte) ernst zu nehmen, Zeit für sie zu haben und ihnen nicht immer gleich das Gefühl zu geben, alles falsch zu machen. Letztere lehrt er, statt davonzulaufen Verantwortung zu übernehmen und zu akzeptieren, dass Handlungen Konsequenzen haben, dass man Veränderungen nicht aufhalten kann und dass nicht immer die ganze Welt das tut, was man gerne möchte.
Am Ende, als sich Max auf den Heimweg macht, hat er gelernt, dass man manchmal nur deswegen eine geliebte Person beisst, weil man schlicht und einfach Angst hat. Aber es gehört beides zum Leben, sowohl das mutwillige Zerstören als das mühsame, langwierige Aufbauen.

"Where the Wild Things Are" ist ein gleichsam federleichter wie schwermütiger Film über das Kindsein, der den Zuschauer mit verträumter Atmosphäre und einem grandiosen Hauptdarsteller zu verzaubern vermag.

ca. 9 von 10 Punkten



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