Samstag, 25. September 2010

Fantastic Mr. Fox (Kino Review)



Fantastic Mr. Fox

Fantastic Mr. Fox wurde im Rahmen des 8. Internationalen Festivals für Animationsfilm Baden (Fantoche) gezeigt.

Inhalt:

Mr. Fox (Stimme von George Clooney), seines Zeichens passionierter Hühnerdieb, hat seinen Job seiner Frau (Stimme von Meryl Streep) zuliebe an den Nagel gehängt. Heute arbeitet der "Fuchs von Welt" bei der Zeitung, obwohl er weiss, dass seine Kolumne eh niemand liest. Eines Tages entdeckt Mr. Fox die Anzeige eines leerstehenden Baumhauses und wittert die Gelegenheit, endlich seine Höhle loszuwerden. Er kauft den Baum, obwohl im sein Anwalt, der Dachs (Stimme von Bill Murray), davon abrät. Zufälligerweise liegen nämlich nicht weit davon die Farmen der berüchtigtsten Bauern des Tales, Boggis, Bunce und Bean, welche unter anderem die grösste Hühnerfarm des Landes führen. Doch Mr. Fox führt etwas im Schilde.
Währenddessen gilt sein Sohn Ash (Stimme von Jason Schwarztman) in der Schule als Aussenseiter und versucht vergeblich, seinem intelligenten und sportlich begabten Vater nachzueifern. Keine grosse Hilfe ist dabei Cousin Kristofferson, der für einige Tage zu Besuch kommt und all das zu sein scheint, was Ash nicht ist. Nicht genug, dass er bei den Mädchen beliebt ist und Karate kann, sogar im Schmetterkrachen ist er besser!

Kritik:

Filmemacher Wes Anderson war bisher vor allem bekannt durch skurrile Indiekomödien und seine Zusammenarbeit mit Owen Wilson und Bill Murray. Mit der Verfilmung des Kinderbuches "Der fantastische Mr. Fox" von Roland Dahl liefert er nun seinen ersten Animationsfilm ab. Obwohl diese heutzutage in den meisten Fällen ausschliesslich am Computer und in 3D entstehen, beschloss Anderson, für seinen Film auf die "altmodische" Technik des Stop Motion zurückzugreifen. Dabei wies er die Animatoren an, die Bewegungen der Figuren absichtlich abrupt und sprunghaft statt flüssig und abgerundet zu gestalten. Ausserdem wurde für die Puppen echtes Fell verwendet, welches sich schwer kontrollieren lässt und einen "Windeffekt" zur Folge hat, da sich die Haare bei jeder Berührung etwas verschieben.

Mit einem ähnlichen Anspruch ging Anderson an den Erzählstil des Filmes heran. Statt eines runden und möglichst simplen Spannungsbogens, wie es bei Kinderfilmen fälschlicherweise häufig erwartet wird, erzählen Anderson und sein Co-Autor Noah Baumbach die Geschichte des Mr. Fox voller Tempo, Elan und schrulligen Einfällen. Dazu werden die Bilder überwiegend von keckem Rot, Gelb und Braun dominiert, was dem Film einen tollen Herbst-Look gibt. Die wunderschöne, detailverliebte Gestaltung der Szenen wird dabei von der musikalischen Untermalung ergänzt, die einerseits aus dem fabelhaften Score von Alexandre Desplat besteht, anderseits mit Songs von beispielsweise den Beach Boys und den Rolling Stones punktet. Spätestens hier spürt man auch wieder Andersons typischen Stil.

Die Figur des Mr. Fox - im Original gesprochen von George Clooney - ist irgendwo zwischen der zivilisierten Welt der Menschen und der wilden Natur der Tiere angelegt. Einerseits kleidet er sich stilvoll, ist gebildet und begegnet allen anderen mit einer gewissen Hochnäsigkeit, anderseits kommt immer wieder das Tier in ihm zum Vorschein, sei es auch nur wenn er gierig sein Frühstück herunterschlingt. So ist es überaus erfrischend, in einem Kinderfilm einmal eine Hauptfigur zu sehen, die zahlreiche Fehler begeht und teilweise auch schlicht egoistisch und unmoralisch handelt. Darüber hinaus enthält der Film durchaus einige Szenen, die in der Figur von Mr. Fox einen weit tiefschürfenderen Konflikt aufdecken: Als "gezähmtes" Tier ist er zwiegespalten zwischen seinen Verpflichtungen als Ehemann und Teil der Gesellschaft einerseits, und einem tief verwurzelten Drang nach Wildnis, nach Abenteuer, nach Gefahr anderseits - ein höchst animalischer Trieb, der im Film schlussendlich allen Tieren innewohnt. So gesehen handelt Fantastic Mr. Fox im Grunde von einer Revolution der Tiere gegen die Menschenwelt mit ihren Gewehren, Bauernhöfen und Eisenbahnen. Dies widerspiegelt sich in der turbulenten, ja geradezu anarchistisch anmutenden Inszenierung und kommt am beeindruckendsten in der Szene mit dem Wolf zum Ausdruck. Am Ende ist Andersons Film eine Liebeserklärung an das Wilde und Animalische, das irgendwo doch in uns allen steckt.

ca. 9 von 10 Punkten


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Dieses Review ist erschienen auf OutNow.

The American (Kino Review)



The American

Inhalt:

Jack (George Clooney) ist ein routinierter Auftragskiller und kennt die goldene Regel: Freunde dich mit niemandem an! Trotzdem bricht er diese Regel, indem er sich während eines Auftrags in Schweden in eine Frau verliebt. Nach einem unglücklichen Zwischenfall liegt sie zusammen mit zwei anderen Männern tot im Schnee.
Jack muss fliehen und taucht auf den Rat seines Auftraggebers Pavel (Johan Leysen) hin in einem kleinen italienischen Dorf unter. Dort freundet er sich wider Willen mit Priester Benedetto (Paolo Bonacelli) und der Prostituierten Clara (Violante Placido) an. Doch bald trifft sein neuer Auftrag ein: Er muss für die Killerin Mathilde (Thekla Reuten) eine besonders ausgefeilte Waffe bereitstellen.

Kritik:

Mit seinem Kinodebüt Control ist Starfotograf Anton Corbijn einer der besten britischen Filme der letzten Jahre gelungen. Die Erwartungen an seinen zweiten Film waren dementsprechend gross. Verständlich also, dass sich Corbijn nicht auf ein Genre festlegen lassen wollte und mit dem Roman A Very Private Gentleman einen Thriller verfilmte. Die Adaption mit dem Titel The American ist dennoch viel weniger Actionfilm, als es uns der Trailer glauben machen will. Es ist schon angenehm, in den Zeiten von The Bourne Ultimatum wieder einmal einen Hitman-Film zu sehen, der ohne ultrahektische Handkamera und Schnittfrequenz von drei Sekunden auskommt. The American ist vielmehr ein Film mit klassischer Handlung, der ebenso klassisch inszeniert wurde. Das Tempo des Filmes ist ruhig, beinahe meditativ, und die Aufnahmen bestechen vor allem durch Atmosphäre und Farbgebung.

Der Film handelt zwar von einem Auftragskiller, dessen Alltag besteht jedoch weniger aus Schiessereien und Verfolgungsjagden denn aus viel Einsamkeit, unterbrochen von kurzen, heftigen Gewaltausbrüchen. Damit liegt Corbijn vermutlich näher an der Realität als die erwähnten Bourne-Filme, wenn man in diesem Genre überhaupt von "realistisch" sprechen kann. Es dürfte sich auch eher eine Zielgruppe mit Alter über 30 vom Film angesprochen fühlen, nicht zuletzt dank der Besetzung der Hauptrolle durch den Mr. Nespresso. Dennoch stellt sich das Problem, dass das gemächliche Erzähltempo ideal für ein Arthouse-Drama - wie etwa Control - sein mag, nicht aber für einen Thriller. Somit schleppt sich The American teilweise dahin, ohne dass dem Zuschauer viel geboten wird.

Die Ausgangslage des Filmes - ein mysteriöser Fremder kommt in eine kleine Stadt und stellt sich als Killer heraus - erinnert stark an einen Western. So zollt Corbijn seinen Vorbildern ganz unverblümt Respekt, indem er in einer Szene im Hintergrund Spiel mir das Lied vom Tod im Fernseher laufen lässt. Auch die Verschlossenheit und den grimmigen Blick teilt George Clooneys Rolle mit Figuren wie denen von John Wayne. Dass sein Spiel dennoch nicht wirklich herausragt, liegt daran, dass es sich nicht gross unterscheidet von Clooney in anderen Filmen wie Michael Clayton. Die restlichen Darsteller überzeugen, aber ebenfalls ohne wirklich im Gedächtnis zu bleiben, da ihre Figuren schlussendlich nicht besonders interessant ausfallen. Erwähnenswert ist einzig Thekla Reuten, welche man möglicherweise aus In Bruges kennt, als Jacks "Arbeitskollegin".

Interessant ist übrigens der Vergleich zwischen letzterem und The American. Beide haben eine ähnliche Grundidee - untergetauchte(r) Killer in einem kleinen Kaff am Arsch der Welt - doch die beiden Filme könnten unterschiedlicher nicht sein. Im Vergleich zu Martin McDonaghs genialem Gespür für schwarzen Humor bleibt Corbijns Film eher fad und eintönig, auch wenn er überaus stilvoll fotografiert ist.

abgerundet ca. 6 von 10 Punkten


Dieses Review ist erschienen auf OutNow.

Abschlussbericht 63. Filmfestival Locarno


in Arbeit

Monsters (Kino Review)



Monsters

Monsters wurde im Rahmen des 63. Filmfestival Locarno gezeigt.

Inhalt:

Vor sechs Jahren: Nachdem in unserem Sonnensystem ausserirdisches Leben entdeckt wurde, schickt die NASA eine Sonde aus, dieses zu erforschen. Unter mysteriösen Umständen stürzt die Sonde bei der Rückkehr über Zentralamerika ab. Wenig später beginnen in dem Gebiet seltsame Lebensformen aufzutreten. Heute: Die "infizierte Zone" erstreckt sich mittlerweile über halb Mexiko, welches unter strenger Quarantäne steht. Die vereinigten Staaten haben an ihrer Südgrenze eine grosse Mauer errichtet, um die Aliens draussen zu halten.
In diesem bürgerkriegsähnlichen Chaos bekommt der Journalist Andrew (Scoot McNairy) den Auftrag, die Tochter seines Chefs (Whitney Able) sicher nach Hause zu bringen. Doch als sie die letzte Fähre verpassen, treffen sie die waghalsige Entscheidung, es auf dem Landweg nach Norden zu wagen. Andrew heuert eine handvoll Söldner an, die sie als Geleitschutz durch den dichten Dschungel führen sollen. Doch reicht das gegen die unbekannte Gefahr, die dort lauert?

Kritik:

Beschäftigt man sich mit Monsters, kommt man nicht umhin, sich mit dessen aussergewöhnlicher Produktionsgeschichte auseinanderzusetzen. Sein Spielfilmdebüt hat Gareth Edwards nämlich für läppische 20'000 Dollar und praktisch im Alleingang auf die Beine gestellt. Ohne Drehgenehmigung, ohne genaues Drehbuch und vor allem ohne richtige Crew hat er sich mit seinen beiden Hauptdarstellern und einem gewöhnlichen Camcorder auf eine Reise durch Mexiko gemacht und gefilmt, wo es eben gerade ging. Danach hat er nicht nur das dabei gesammelte Material mühsam zu einem eineinhalbstündigen Spielfilm zusammengeschnitten, er hat auch sämtliche Visual Effects am Heimcomputer selbst erstellt. Das Resultat: Monsters ist nicht weniger als die wohl bis dato beeindruckendste Behind-the-Cameras-One-Man-Show überhaupt.

Thematisch erinnert der Film stark an District 9, auch wenn Edwards bereits mitten in den Dreharbeiten war, als Neil Blomkamps Überraschungshit anlief. Dennoch unterscheidet sich die Herangehensweise der beiden Filme schlussendlich deutlich: Während District 9 je länger desto mehr sprichwörtlich zu einem Action-Kracher mutiert, täuscht bei Monsters der Eindruck eines actionreichen Science-Fiction-Thrillers, welcher vom Trailer nahegelegt ist. Treffender ist es, den Film als Drama mit sowohl schauerlichen als auch romantischen Elementen zu charakterisieren. So nennt Edwards auch Lost in Translation als einer seiner Hauptinspirationspunkte.

Wirklich viel Handlung hat Monsters tatsächlich nicht zu bieten. Im Zentrum steht viel mehr das Seherlebnis, welches einen die Welt unmittelbar durch die Augen der Protagonisten erfahren lässt. Dank deren frischem, häufig improvisierten Spiel und der dokumentarischen Kameraführung hat man das Gefühl, wirklich dabei zu sein und das Geschehen hautnah zu erleben. In seinem Anspruch, die Geschichte möglichtst realitätsnah zu erzählen, weckt Monsters somit spannende Assoziationen mit den Dogma-Filmen. Nebenbei wird überaus geschickt durch Anspielungen auf aktuelle politische Debatten eine gewisse Tiefgründigkeit geschaffen. So wird das Einwanderungsproblem der USA, aber etwa auch die moralische Fragwürdigkeit von Kriegsreportagen angesprochen. Dies nimmt aber nicht ansatzweise die Dimension der Apartheid-Analogie des erwähnten District 9 an, und doch hilft es Monsters, dem Zuschauer die Konflikte vertraut und realitätsnah erscheinen zu lassen.

Schade nur, dass der Film das Interesse des Zuschauers nicht über die ganze Zeit aufrechterhalten kann und am Ende ein grosses Finale vermissen lässt. Spätestens hier macht sich wieder das begrenzte, beziehungsweise schlicht nicht vorhandene Budget bemerkbar. Dennoch ist Monsters ein reiner Triumph: Ohne vergleichbare Mittel hat Edwards einen Film geschaffen, der Millionenprodukten aus Hollywood in Sachen Kreativität und Innovationslust locker das Wasser reichen kann. Wir sind gespannt darauf, was dieser Mann zustande bringt, wenn er dann einmal auch etwas Geld zur Verfügung hat.

aufgerundet ca. 8 von 10 Punkten

Saç (Kino Review)



Saç

Saç wurde im Rahmen des 63. Filmfestival Locarno gezeigt.

Inhalt:

Den ganzen Tag lang steht Hamdi (Ayberk Pekcan) in seinem Laden in einem schäbigen Viertel Instanbuls. Im ganzen Raum stehen Büsten auf Regalen an den Wänden: Hamdi verkauft Perücken. Er selbst redet kaum, raucht die ganze Zeit und ist sehr einsam. Lange zu leben hat er nicht mehr - er hat Krebs - und würde vor seinem Tod höchstens mal gerne nach Brasilien gehen, das er von einer Werbetafel vor seinem Laden kennt.
Eines Tages kommt Meryem (Nazan Kesal) zu ihm in den Laden und möchte ihm ihr Haar verkaufen. Als sie ihr Kopftuch löst, staunt Hamdi nicht schlecht: Ihr schwarzes Haar reicht bis über die Hüfte hinab. Langsam schneidet es Hamdi ab. Als Meryem seinen Laden verlässt, folgt er ihr heimlich. Es stellt sich heraus, dass sie in einem Einkaufszentrum arbeitet und ein distanziertes Verhältnis zu ihrem Mann (Riza Akin) hat. Hamdi kann nicht mehr von ihr ablassen und folgt Meryem Tag und Nacht. Die Situation wird immer bizarrer.

Kritik:

Saç ist der vierte Spielfilm des Türken Tayfun Pirselimoglu, der sowohl Regie führte als auch das Drehbuch schrieb. Dass er zuvor in Wien Malerei studiert hatte, merkt man auch seinem neusten Werk an. Schliesslich glänzt Saç in erster Linie durch seine Bilder, die allesamt perfekt komponiert, aufwändig ausgeleuchtet und mit gezielter Symbolik angereichert sind. Mit seiner eindringlichen Bildsprache gelingt es Pirselimoglu, ein Istanbul voller Melancholie und Einsamkeit darzustellen. Die Figuren kehren immer wieder an die selben verlassenen Orte zurück und auch gewisse Einstellungen kommen immer wieder. Dabei wird das Geschehen sehr statisch inszeniert, und folgerichtig bewegt sich auch die Kamera kaum.

Nicht genug, dass sich die Figuren im ganzen Film sehr langsam und bedächtig bewegen, sie reden auch kaum. Wenn dann mal ein Dialog stattfindet, ist er knapp und aufs Notwendige beschränkt. Vielmehr scheinen die Figuren über Blicke zu kommunizieren, während ihre Körper wie festgefahren zwischen den Mauern und Wänden wirken. Umso unerwarteter kommt der kurze Gewaltausbruch am Ende. Über das Innenleben der Protagonisten erfahren wir aber sogar in dieser Szene kaum etwas, beziehungsweise können nur durch Andeutungen darauf schliessen. Generell bleibt es im Dunkeln, was denn nun Hamdis Plan ist oder ob er überhaupt einen hat. Geradezu schwebend bewegt er sich durch die Stadt, wobei sein Laden und der Blick aus dem Fenster den Ausgangspunkt markiert.

Möglicherweise stellt das immer wiederkehrende Bild von Hamdi, wie er allein in einem Raum voller "toter", ihn anstarrender Köpfe steht, eine Metapher für Isolation des Einzelnen in der modernen türkischen Gesellschaft dar. Denn egal, ob sich die Figuren zuhause im dunklen Wohnzimmer oder im Bus voller Leute befinden, sie sind stets einsam und isoliert. Dabei betont Pirselimoglu den Kontrast zwischen dem modernen, schnellen Stadtleben und der langsamen, islamischen Tradition. Auf visueller Ebene ist das geschickt dargestellt, indem man etwa einmal in einem verlassenen, kargen Dorf im Hintergrund die Autobahn vorbeidonnern sieht.

Alles schön und gut, ändert aber nichts daran, dass sich der Film dahinschleppt. Es geschieht einfach zu wenig. Pirselimoglu nimmt sich viel Zeit für die Entwicklung der Handlung, ohne dem Zuschauer wirklich einen Grund zu geben, mit Hamdi mitzufühlen. Erst gegen Ende kommt etwas Dynamik in die Sache, und der Schluss fällt sowohl extrem bizarr als auch ziemlich unbefriedigend aus.

Saç ist toll fotographiert, aber höchstens für Arthouse-Fans wirklich interessant. Ein richtiger Festivalfilm eben.

ca. 6 von 10 Punkten

Curling (Kino Review)



Curling

Curling wurde im Rahmen des 63. Filmfestival Locarno gezeigt und dort mit dem goldenen Leoparden für den besten Regisseur und den besten Hauptdarsteller ausgezeichnet.

Inhalt:

Die 12-jährige Julyvonne (Philomène Bilodeau) ist kein normales Kind. Von ihrem Vater Jean-François (Emmanuel Bilodeau) wird sie gehütet wie sein Augapfel, während ihre Mutter in der psychiatrischen Anstalt sitzt. Die beiden wohnen im Vorort einer Stadt in Québec. Julyvonne verlässt das Haus praktisch nie und wurde ihr ganzes Leben daheim unterrichtet - allerdings nur mit mässigem Erfolg, da sie nicht einmal die einfachste Rechenaufgabe lösen kann. Dennoch ist ihr Vater überzeugt davon, dass eine öffentliche Schule nicht das richtige für seine Tochter ist.
Jean-François arbeitet tagsüber in einer Bowlinghalle, nachts in einem zwielichtigen Motel, hat aber ebenfalls wenig Kontakt mit der Gesellschaft. Erst nach einer Reihe von Vorfällen beginnt er zu realisieren, dass etwas in seinem Leben nicht stimmt. Doch währenddessen macht seine Tochter bereits ihre ganz eigene Entwicklung durch, nachdem sie im Wald einen schaurigen Fund gemacht hat.

Kritik:

Denis Côté ist ja nicht gerade bekannt dafür, dass er leicht zugängliche Filme macht. Dennoch könnte Curling im Vergleich zu seinen anderen Werken eher für die Masse geeignet sein, allein dank der Tatsache, dass er sowohl auf inhaltlicher wie auf formaler Ebene Assoziationen mit Fargo weckt. Einerseits enthält die Handlung zahlreiche morbide und skurrile Elemente, anderseits spielt sie sich in einer verschneiten, abgelegenen Vorortgegend ab. Viel mehr Gemeinsamkeiten sind da aber nicht, da Fargo natürlich viel stärker der klassischen Hollywood-Erzählstruktur verpflichtet ist.

Côté hingegen erzählt seinen Film in sehr wenigen, sehr langen Einstellungen. Diese sind dann meist auch sehr statisch und ruhig, weshalb man sie zu Beginn ohne Probleme zählen könnte. Ebenfalls schon von Anfang an sticht die künstlerische Absicht hervor, Einsamkeit und Abgeschiedenheit darzustellen, etwa wenn über einer vereisten Strasse in einem endlosen Schneefeld der Filmtitel erscheint. Damit wird auch schon etabliert, welches visuelle Kernthema sich durch den ganzen Film ziehen soll: die Farbe Weiss. Diese findet sich praktisch überall - ob in der Natur, auf den verlassenen Strassen oder in kahlen Innenräumen. Oft wirken die Bilder geradezu, als seien sie mit wenig Farbe auf eine leere, weisse Leinwand gemalt worden. So wird den Zuschauern die Kälte und Kargheit der Welt innerhalb und ausserhalb der Figuren unmissverständlich klargemacht.

Während bei der Bildgestaltung also sehr genau darauf geachtet wurde, was gezeigt wird, fällt bei der Montage eher das auf, was eben nicht gezeigt wird. Wir erfahren wenig über die Hintergründe der Figuren, und innerhalb der Geschichte werden teilweise unvermittelt Ereignisse übersprungen. So verzichtet Côté bewusst auf einen abgerundeten Erzählfluss und mutet dem Publikum zu, Initiative zu ergreifen und sich von selbst für das Geschehen zu interessieren. Das fällt etwas schwer, da der Grundkonflikt zwar gegeben ist, sein Verlauf jedoch lediglich angedeutet wird.

Von Beginn weg spürt man, dass hinter der Fassade des harmonischen Vater-Tochter-Verhältnisses etwas nicht stimmt. Man wartet gewissermassen auf eine Explosion, welche die Probleme löst oder zumindest offenlegt, was von Côté aber bewusst - vermutlich aus Überzeugung - verweigert wird. So bleibt alles vage und unpräzise. Zum Schluss belässt es Côté dann auch mit dem Hinweis auf einen etwaigen Heilungsprozess. Das Problem an Curling ist aber weniger, dass er seine Geschichte reduziert und zurückhaltend erzählt, sondern dass ebendiese im Endeffekt banal und irgendwie belanglos ist.

abgerundet ca. 6 von 10 Punkten

Beyond the Steppes (Kino Review)



Beyond the Steppes

Beyond the Steppes wurde im Rahmen des 63. Filmfestival Locarno gezeigt.

Inhalt:

Polen 1940: Nina (Agnieszka Grochowska) muss sich allein um ihr Baby Anton kümmern, da ihr Mann Roman (Borys Szyc) als Offizier im Krieg ist. Als die sowjetischen Truppen die Stadt einnehmen, wird Nina mit zahlreichen anderen Frauen und Kindern deportiert. Nach einer langen Reise erreichen sie die Farm, auf der sie arbeiten sollen. Das Leben ist hart und die russischen Aufseher erbarmungslos, doch die Freundschaft zu Jadwiga (Aleksandra Justa) muntert Nina etwas auf.
Eines Tages wird Anton krank. Da es in ihrem Lager keine Medizin gibt, bittet Nina die Wachen verzweifelt um die Erlaubnis, in die nächste Stadt mit einem Krankenhaus gehen zu dürfen. Schliesslich willigt der Kommandant ein, aber nur unter der Bedingung, dass sie Anton im Lager lässt und alleine die Medizin holen geht. Nina schliesst sich einer Gruppe mongolischer Reisender an, die auf einem Wagen durch die Steppe unterwegs ist. Wird sie es rechtzeitig schaffen, mit der Medizin zurückzukehren?

Kritik:

Polnische Filme über die Auswirkungen des Zweiten Weltkrieges auf das Land gibt es wenige. Bekannt sind vielleicht die Werke von Andrzej Wajda, der etwa in Asche und Diamant ein vom Bürgerkrieg zwischen den Nationalisten und den Sowjets zerrüttetes Nachkriegs-Polen zeigte. Einem eher unbekannten Abschnitt der polnischen Geschichte widmet sich nun auch Vanja d'Alcantara mit ihrem Film Beyond the Steppes. Zwar ist es eine belgische Produktion, Inspiration bildeten aber die Memoiren von d'Alcantaras' Grossmutter, die während des Zweiten Weltkriegs als sowjetische Kriegsgefangene nach Sibirien deportiert worden war.

So wurde bei der Produktion besonders viel Wert auf historische Authentizität gelegt. Die Regisseurin verzichtet weitgehend auf dramatisierende Ausschmückungen der Handlung, ausserdem wird originales Polnisch, Russisch und Kasachisch gesprochen. Dennoch ist Beyond the Steppes kein offensichtlicher Historienfilm, geschweige denn ein Kriegsfilm. Der Zweite Weltkrieg bildet lediglich den Rahmen für Ninas Reise, vom eigentlichen Krieg ist nichts zu sehen. Dies wäre auch gar nicht möglich gewesen, da der Film mit einem Budget von 1,3 Millionen Euro kaum die Mittel dazu gehabt hätte.

Im Zentrum stehen somit mehr das menschliche Drama und die Leiden, welche Nina durchmachen muss. Das funktioniert soweit so gut, vor allem dank Hauptdarstellerin Agnieszka Grochowska, deren Leinwandpräsenz praktisch den ganzen Film tragen muss. Dennoch reicht das nicht für 90 Minuten, auch wenn einige sowohl schauspielerisch als auch inhaltlich starke Szenen durchaus vorhanden sind. Es fehlt jedoch an dem Geschick, diese Szenen zu einem einheitlichen Spannungsbogen zu verknüpfen und zu verdichten. Die auffallend elliptische Montage unterstützt diesen Eindruck, selbst wenn auch hier einzelne Szenen wirklich überzeugend geschnitten sind.

Beyond the Steppes braucht eine Weile, um in Fahrt zu kommen. Schliesslich hat man die Geschichte von Kriegsgefangenen und Deportierten in ähnlicher Form bereits zahlreiche Male gehört und gesehen. Während der Mittelteil in Form der sich allmählich entwickelnden, ohne Worte auskommenden Freundschaft Ninas zu den Mongolen das Highlight des Filmes darstellt, folgt wiederum ein unspektakuläres, beinahe schon belangloses Ende. Da hilft es auch nicht weiter, dass die sibirischen Landschaften atemberaubend in Szene gesetzt sind und der Film generell sehr atmosphärisch fotografiert wurde. Die Uneinheitlichkeit des Drehbuchs und das ruhige Erzähltempo führen dazu, dass Beyond the Steppes auf der Handlungsebene schlicht zu wenig zu bieten hat, um wirklich zu überzeugen.

abgerundet ca. 6 von 10 Punkten

Prud'Hommes (Kino Review)



Prud'Hommes

Prud'Hommes wurde im Rahmen des 63. Filmfestival Locarno gezeigt.

Inhalt:

Das Prud'hommes ist ein Arbeitergericht, das Konflikte zwischen Arbeitnehmern und -gebern regeln soll. Da diese nur allzu häufig auftreten, ist eine rasche, effiziente und verhältnismässig unkomplizierte Rechtssprechung nötig. Deshalb steht es jedem Beteiligten frei, sich von einem Anwalt, einem Gewerkschaftssekretär oder eben von niemandem vertreten zu lassen, während das Gericht stets die Möglichkeit auf eine aussergerichtliche Einigung offenhält. In den meisten Fällen findet eine solche auch statt, da schlussendlich die wenigsten Kläger wirklich vor dem Richter stehen wollen.
Die Mehrheit der Fälle, die vom Gericht untersucht werden, handeln von einem Arbeitnehmer, der wegen einer angeblich ungerechtfertigten Kündigung gegen seinen ehemaligen Chef klagt. Dabei wird meist entweder das Wiedererlangen der Stelle oder aber Schadenersatz gefordert. Da gibt es etwa einen Chauffeur, der seine Stelle wegen eines Alkoholproblems verloren hat, oder einen jungen Automechaniker, der bestreitet, seinen Lehrmeister beleidigt zu haben. Sie alle fordern nun Gerechtigkeit.

Kritik:

Regisseur Stéphane Goël hat mit Prud'Hommes ein sicherlich interessantes und vor allem lebensnahes Thema für einen Dokumentarfilm gewählt. Schliesslich erfahren die meisten Menschen einmal eine ungerechte Behandlung durch ihren Vorgesetzten und können somit das Anliegen der gezeigten Personen ohne Weiteres nachvollziehen, vor allem wenn es existentielle Fragen auf dem Spiel stehen. Dennoch wirkt es etwas einseitig, dass sich der Film praktisch ausschliesslich auf die Sicht der Kläger, also üblicherweise der Arbeitnehmer, konzentriert. Dennoch bleibt es dem Zuschauer stets selbst überlassen, ein abschliessendes Urteil zu fällen. Ausserdem wird die ambivalente Position des Gerichts deutlich gemacht: Dank ihm erfahren die einen endlich Gerechtigkeit und Genugtun, die anderen verfahren sich vor Ort in ihrer eigenen Argumentation und stehen schlussendlich machtlos da.

Als Zuschauer erwartet man dabei nicht nur Emotionen, sondern ein regelrechtes menschliches Drama. Dieses spielt sich im Prud'hommes nämlich tagtäglich ab, und es bleibt der Eindruck, dass die Kamera nur einen Bruchteil davon einfangen konnte. Überhaupt kommt sie nicht so nahe an die Figuren heran, wie es zu wünschen gewesen wäre - der Vergleich mit La Forteresse drängt sich auf -, sondern bleibt eher distanziert. Die Anwesenheit eines Filmteams bleibt dabei gerade in persönlichen Momenten gegenwärtig, etwa wenn die Personen immer wieder kurz in die Kamera blicken.

Schade auch, dass der Film keine wirklich spannende Struktur zu bieten hat. Im Prinzip werden lediglich die einzelnen Fälle aneinander- bzw nebeneinander aufgereiht, ohne dass die Montage sich besonders Mühe gibt, Bedeutungszusammenhänge zu schaffen. Die Kameraarbeit ist formal gesehen ebenfalls höchst durchschnittlich, wobei fairerweise anzumerken ist, dass im Gerichtssaal selber dafür vermutlich wenig Möglichkeiten gegeben waren.

Prud'Hommes ist ein netter Dokumentarfilm über ein interessantes Thema, der allerdings viel zu unspektakulär geraten ist, ruft man sich in Erinnerung, dass es manchen Klägern um nicht weniger als ihre Zukunft geht.

ca. 6 von 10 Punkten