Samstag, 14. August 2010

Locarno - Tag 7


Am 63. Filmfestival Locarno - Dienstag, 10. August

Nach einem wunderschönen Sonnenaufgang musste ich bereits wieder um 9 Uhr im Kursaal sein, und zwar für die Pressevorführung von Bas-Fonds. Der Film stammt von Isild Le Besco, welche im Piazza-Eröffnungsfilm Au fond des bois als Schauspielerin zu sehen war. Sicherlich kein leicht zu verdauendes Werk, hat mir der Film dann doch je länger desto mehr gefallen (Review).
An der anschliessenden Pressekonferenz des Filmes hatte ich dann endlich die Gelegenheit, die 27-jährige Französin in der Realität zu sehen. Trotz ihrer starken Leinwandpräsenz schien sie mir eine zurückhaltende, geradezu schüchterne Person zu sein, wie sie brav die Fragen der Journalisten beantwortete.

Den Nachmittag hatte ich mir reserviert, um ausstehende Reviews nachzuholen. So gings erst um 19 Uhr wieder ins Kino, nämlich für meinen bisher neunten Lubitsch, Cluny Brown. Sein zweitletzter Film ist eine hinreissende Satire auf die britische Oberschicht ganz im Stil von Oscar Wilde, inklusive bissigen Seitenhieben auf das Nazi-Deutschland und für diese Zeit verblüffend explizite sexuelle Anspielungen.


Da ich meinen Zug verpasste, ging ich spontan doch noch den heutigen Piazza-Film, The Human Resources Manager, sehen. Das war ein Glück, wie sich herausstellte. Zuerst wurde jedoch noch der Pardo d’onore an den schweizer Filmemacher Alain Tanner verliehen, welcher sich mit einem Lebenswerk von 19 Spielfilmen einen Namen gemacht hatte. Dazu wurde eine kleine Hommage in Form eines 10-minütigen Zusammenschnitts seiner Filme gezeigt. Als Tanner dann selbst die die Bühne betrat, ehrte ihn die Piazza mit einer standing ovation. Im Kontrast war es dann geradezu peinlich, als Swisscom-Präsident Anton Scherrer die Bühne betrat und nur vereinzelte Leute im Publikum klatschten. Nichts gegen Sponsoring, aber Swisscom drängt sich wirklich zu sehr in den Vordergrund, wenn doch sogar der Preis offiziell als Pardo d’onore Swisscom ausgeschrieben wird. Offensichtlich teilten an dem Abend auf der Piazza viele Zuschauer diese Meinung.

Darauf betrat auch noch das Team rund um den israelischen Streifen The Human Resources Manager die Bühne, wobei sich vor allem Schauspieler Guri Alfi – er spielt den Journalisten – als ausgesprochen wortgewandt erwies. Der Film hat mich überaus positiv überrascht. Anfangs eher ein ernstes Drama, wandelt er sich mit der Zeit zu einem skurrilen, unterhaltsamen Road-movie - ich kann mir gut vorstellen, dass da eine Oscar-Nomination winkt. Bemerkenswert ist ausserdem, dass es für einmal in einer traurigen Szene nicht im Film selber, sondern beim Publikum zu regnen begann. Das nenne ich gutes Timing. Glücklicherweise dauerte der Film aber nur noch zehn Minuten.

Eindrücke:

Sonnenaufgang

Linienschiff Magadino-Locarno

Pressekonferenz zu Periferic

Isild Le Besco an der Konferenz zu Bas-Fonds




Festivaldirektor Olivier Pere stellt den Ehrenpreis für Alain Tanner vor

Die Piazza Grande am Abend

Alain Tanner nimmt den Pardo d'onore entgegen

Das Team von The Human Resources Manager

Locarno - Tag 6


Am 63. Filmfestival Locarno - Montag, 9. August

Da in der Kategorie Appelations Suisse allerlei schweizer Filme der letzten Jahre gezeigt werden, nutzte ich am Morgen die Gelegenheit, Coer animal nachzuholen. Den Abräumer am letzten schweizer Filmpreis hatte ich bei der regulären Kinoauswertung leider versäumt. Es hat sich dann auch definitiv gelohnt, den Film auf Grossleinwand zu sehen, da er die alpine Bergwelt in sehr, sehr atmosphärischen Bildern zeigt. Coer animal ist intensives Schauspielkino weitab dem üblichen heiteren Sonnenschein der hiesigen Fernsehfilme. Schade, kommen die beiden Hauptdarsteller allesamt aus Frankreich. Anschliessend stellte sich die Crew noch den Fragen des Publikums, unter anderem Regisseurin Séverine Cornamusaz und Schauspieler Antonio Buil. Erzählt wurde etwa von der Schwierigkeit, mit nicht dressierten Tieren zu arbeiten, dem Anspruch, das Bergleben naturalistisch wiederzugeben, und Hauptdarsteller Olivier Rabourdins knifflige Aufgabe, sich von einem Pariser Stadtmenschen in einen ungehobelten Hinterwäldler zu verwandeln.

Der Film wurde übrigens im Fevi gezeigt, welches zusammen mit dem La Sala und L’altra Sala am zweiten Festivalcenter im Südwesten Locarnos liegt. Bisher hatte ich mich vor allem bei der Piazza Grande aufgehalten, wo sowohl alle Lubitsch-Filme wie auch die Pressevorführungen gezeigt werden. Ebenfalls auf dem Fevi-Areal finden jeweils die round tables statt, also die öffentlich zugängigen Diskussionen mit den Filmemachern. So war etwa am Mittag das Team von La petite chambre anwesend.

Nachdem ich auf der Piazza Grande zu Mittag gegessen und ein wenig das hiesige Vogelleben beobachtet hatte, ging es wiederum ins Fevi an die Vorführung von Curling, dem neuen Film von Denis Coté, Gewinner des goldenen Leoparden 2005. Passend zur Jahreszeit spielt der Film im eisigen, verschneiten Kanada. Trotz starker Atmosphäre sprang der Funken bei mir nicht ganz über (Review folgt). Am folgenden round table erklärte Coté unter anderem, dass es seine klare Absicht gewesen war, nicht über vage Andeutungen hinauszugehen.
Für mich ging es direkt weiter in die Vorstellung von Prud’Hommes, einem Dokumentarfilm über ein genfer Arbeitergericht (Review folgt). Der Film wurde im La Sala gezeigt, fing jedoch wegen dem grossen Menschenandrang ca eine halbe Stunde zu spät an. Um meinen letzten Zug zu erreichen, musste ich den Film deshalb ärgerlicherweise leider fünf Minuten vor Schluss verlassen.

Eindrücke:

Das Auditorium FEVI

Fragerunde zu Coer animal

Forum Spazio

Swiss Films Pavilion

Eingang zum La Sala und L'altra Sala

Das Team von La petite chambre

Die Piazza am Mittag




Anstehen für Curling

Round table zu Curling

Das Publikum im Forum Spazio

Regisseur Denis Coté erklärts

Festivaldirektor Olivier Pere stellt Prud'hommes vor

Regisseur Stéphane Goël und sein Team

Donnerstag, 12. August 2010

Locarno - Tag 5


Am 63. Filmfestival Locarno - Sonntag, 8. August

Ich nahm es relativ gemütlich und machte mich erst am Nachmittag auf den Weg nach Locarno, um mir Lubitschs Klassiker Ninotchka anzusehen. Ich staunte nicht schlecht, als ich beim Rex eintraf: Die Schlange vor dem Kino reichte bis auf die andere Seite der Piazza. Das hat mich dann schon etwas überrascht, weil ich a) bei allen anderen bisherigen Lubitschs nicht anstehen musste und b) Ninotchka nicht als dermassen zugkräftig eingestuft hätte. Wohl oder übel stand ich dann halt eine Viertelstunde in der Schlange, fand aber glücklicherweise noch einen Platz im Kino.


Der Film wurde von Joseph McBride eingeführt, welcher unter anderem über Lubitschs russische Abstammung und sein Verhältnis zum Kapitalismus erzählte, von welchem die Greta Garbo in Ninotchka bekehrt bzw verführt wird. Den Film in einem vollen Kino zu sehen war dann doch ein Glück, es herrschte eine heitere Stimmung. Er gefiel mir auch besser als ich ihn in Erinnerung hatte, unter anderem nachdem mir Melvyn Douglas schon in That Uncertain Feeling zugesagt hatte. Billy Wilders Drehbuch erweist sich dann auch als ausgesprochen pfiffig und schafft es, das Sowjet-Klischee für einmal nicht ausgelutscht und platt erscheinen zu lassen. Der einzige wirkliche Störfaktor ist für mich weiterhin – es mag Gotteslästerung sein – Greta Garbo. Die schönste Frau der Welt ist zwar auch hier anmutig und elegant, schauspielerisch schafft sie es jedoch nicht, die 180-Grad-Drehung ihrer Figur glaubhaft rüberzubringen. Der Film ist trotzdem grandios. Ich sage nur: Lovers of the world, unite!


Da Ninotchka gut eine halbe Stunde zu spät angefangen hatte, verpasste ich leider den Anfang des anschliessenden Boogie Nights, der im Fevi zu Ehren von John C. Reilly lief. Das war aber nicht weiter schlimm, da ich den Film bereits zweimal gesehen habe. Er begeisterte mich aber auch dieses Mal, ist P. T. Anderson doch ein geradezo monumentales Werk über die goldene Ära der Pornoindustrie gelungen.

Am Abend ging ich das zweite Mal auf die Piazza Grande und sah Svet-Ake (The Light Thief), einen dokumentarisch angehauchten Film aus Kirgistan über einen Elektriker in einem kleinen Dorf, in dem der überteuerte Strom nur eines der zahlreichen Probleme darstellt. Als zweites lief dann der in Locarno regelrecht gehypte Rubber, einen Film über – Sie lesen schon richtig – einen mordlustigen Autoreifen. Als Hommage an Filme wie Angriff der Killertomaten gedacht, rollt der Killerpneu anfangs ganz gut, kommt dann aber bals ins Stocken. Meiner Meinung nach wäre die Idee viel besser als Kurzfilm realisiert worden. Anschliessend ging es noch kurz an die Afterparty von Rubber.

Quentin Dupieux stellt seinen Film Rubber vor

Cyrus (Kino Review)



Cyrus

Cyrus wurde im Rahmen des 63. Filmfestival Locarno gezeigt.

Inhalt:

John (John C. Reilly) hat das Gefühl, das Leben würde an ihm vorbeiziehen: Er ist geschieden, lebt alleine in einer kleinen Wohnung und arbeitet nebenbei als Cutter. Nur mit Mühe kann ihn seine Ex-Frau Jamie (Catherine Keener) überzeugen, mit an eine Party zu kommen. Doch dort trifft er auf Molly (Marisa Tomei). Nicht genug, dass sie sexy, bodenständig und humorvoll ist, sie zeigt auch reges Interesse an John. Sie lernen sich näher kennen und gehen am Abend zusammen nach Hause. Am Morgen fühlt sich John, als wäre er eben erst neu geboren worden.
Zu viel des Guten? Sieht so aus, denn einige Tage später lernt John Cyrus (Jonah Hill), Mollys erwachsenen Sohn, kennen. Dieser ist komisch. Irgendwie. Der 21-jährige lebt zu Hause, wurde das Leben lang von seiner Mutter unterrichtet und ist gerade dabei, seine "Karriere" als Musiker zu lancieren. Anfangs lässt er sich zwar nichts anmerken, John wird aber bald klar, dass er als Eindringling in diesem Haus nicht goutiert wird. Doch für die Frau seiner Träume ist er bereit zu kämpfen.

Review:

Vergleicht man Cyrus mit Step Brothers, sind einige Parallelen augenscheinlich: Ähnliche Story (Erwachsener wohnt noch zuhause), selbes Genre (Komödie) und selber Hauptdarsteller (John C. Reilly). Letzterer darf hier aber in die umgekehrte Rolle schlüpfen, nämlich in die des Erwachsenen, während Jonah Hill den Nesthocker spielt. Auch sonst fallen bei genauerer Betrachtung grosse Unterschiede auf. Während Step Brothers ein für 65 Millionen Dollar produziertes Studioprodukt ist, kamen die Regisseure und Autoren von Cyrus, die Brüder Jay und Mark Duplass, gerade mal mit sieben Millionen Dollar aus. Der Film versteht sich dann auch viel mehr als Auteur- und Indiefilm.

Nebenbei ist Cyrus ein gutes Beispiel dafür, wie weit uns Dogma und andere Bewegungen um die Jahrtausendwende bereits gebracht haben. Die Duplass-Brüder zeigen nämlich ihre Vorliebe für den Doku-Style, indem sie das Geschehen mit Handkamera, abrupten Zooms und schnellen Schwenks inszenieren. Dazu kommt kaum zusätzliches Licht oder Nachbearbeitung des Materials am Computer, was zu einem stark naturalistischen Stil führt.

Auch für die Schauspieler war diese Art des Drehens eine Herausforderung und Erfahrung, wie Reilly 2010 an der Pressekonferenz in Locarno bemerkte. Am Set wurde angeblich auf genaue Vorgaben verzichtet, viel improvisiert und darüber hinaus chronologisch gedreht. Dieser Mut zahlt sich aus, denn Cyrus glänzt in erster Linie durch seine Schauspieler. Vor allem Reilly schafft es bereits in der ersten Szene, dem Zuschauer seine Figur unmittelbar nahe zu bringen, wobei er nicht - wie man es aus anderen Filmen kennt - einen totalen Looser spielt, sondern einfach einen normal guy mit Ecken und Kanten, aber auch positiven Seiten. Dabei ist Marisa Tomei (The Wrestler) natürlich wie immer hinreissend und überzeugt als sensible, übervorsichtige Mutter, auch wenn ihre Rolle in der zweiten Hälfte des Filmes an Gewicht verliert. Immer mehr rückt nämlich die Beziehung zwischen John und Cyrus in den Fokus. Jonah Hill lässt sich zwar im Prinzip auf den selben verdutzten Gesichtsaudruck aus Superbad reduzieren, meistert seine Aufgabe aber doch beachtlich und mischt die richtige Portion weirdness mit jugendlicher Verletzlichkeit.

Wenn wir schon dabei sind: Eine Gagparade à la Superbad sollte man bei Cyrus nicht erwarten. Der Film ist gewiss keine reine Komödie - dafür bietet er zu viel Drama. Und auch der Humor ist ziemlich schräg, ergibt er sich doch vor allem aus seltsamen Situationen und Gesprächen. Überhaupt mag Cyrus nicht besonders spannend, besonders aufregend oder besonders abgefahren sein - weil das Leben nun mal auch nicht so ist. Dafür erzählt er uns eine Geschichte von echten Menschen mit echten Problemen und Konflikten, die sich nicht einfach so lösen lassen. Im aktuellen amerikanischen Kino ist das leider zu selten der Fall.

ca. 7 von 10 Punkten

Bas-Fonds (Kino Review)



Bas-Fonds

Bas-Fonds wurde im Rahmen des 63. Filmfestival Locarno gezeigt.

Inhalt:

Die drei jungen Französinnen Magalie, Marie-Steph und Barbara bilden eine etwas besondere Wohngemeinschaft: Sie leben in einem dreckigen, heruntergekommenen Apartment in der Vorstadt, wo Magalie, genannt Mag, und ihre kleine Schwester Marie-Steph den ganzen Tag nur rumsitzen, während Barbara tagsüber als Putzhilfe arbeitet. Der Alltag der Frauen ist so eintönig wie primitiv, geprägt von Alkohol, Sex und Gewalt, wobei letztere vor allem von der dominanten Mag ausgeht.
Eines Tages geschieht die Katastrophe: Als die drei eine Bäckerei überfallen, erschiesst Mag einen jungen Mann. Sie flüchten und entkommen der Polizei, doch von nun an ist nichts mehr wie vorher. Mag ist plötzlich seltsam verschlossen, während Marie-Steph und Barbara beginnen, sich einen verbissenen Kampf um ihre Zuneigung zu liefern. Das Unheil nimmt seinen Lauf.

Review:

Isild Le Besco ist vor allem bekannt als Schauspielerin in den Filmen von Benoît Jacquot, mit dem sie bisher ganze sechs Mal zusammenarbeitete. Nebenher ist die 27-Jährige aber auch als Regisseurin tätig. So war sie am 63. Filmfestival Locarno gleich doppelt vertreten, einerseits in Jacquots Au fond des bois, anderseits mit ihrem neuen Film Bas-Fonds.

Auch wenn sich der Film am Ende auf eine relativ klassische Verbrecherstory reduzieren lässt, deutet am Anfang kaum etwas darauf hin. Viel mehr wird der Zuschauer hineingeworfen in eine Gemeinschaft von drei Frauen, die sich am Rande der Gesellschaft befinden und von denen jeglicher Anstand, jede Moral oder Tugend längst abgefallen zu sein scheint. Ton angebend ist dabei Mags brutaler Charakter, der sich in dem isolierten Umfeld geradezu auf die Urtriebe zurückgebildet hat. Die Tatsache, dass Le Besco diese Umstände ungeschönt zeigt, könnte zahlreiche Zuschauer vor den Kopf stossen. Schliesslich zeichnet sich Bas-Fonds in erster Linie durch seinen Mut zur Hässlichkeit aus. Folglich wird der Grossteil der Story als intimes Kammerspiel inszeniert, das in seiner rohen Intensität hie und da durchaus auf den Magen schlagen dürfte. Auch das anfangs starke Overacting der Darstellerinnen könnte irritieren, schliesslich erweisen sich mindestens zwei der drei Hauptpersonen als völlig unfähig, normal zu kommunizieren.

Die Sache hat aber durchaus Konzept. So besteht die grosse Leistung des Filmes darin, dass es dem Zuschauer mit der Zeit gelingt, hinter die Fassade dieser angeblichen "Monster" zu blicken und Menschen zu sehen, deren Lebenssituation mitverantwortlich dafür ist, wozu sie geworden sind. Lässt man sich auf Bas-Fonds ein, entfaltet er das faszinierende Psychogramm einer Dreiecksbeziehung, die durch ein wechselndes Spiel von Abhängigkeit, Unterdrückung, Neid und Hass geprägt ist. Das ist in einem naturalistischen Stil fotografiert, mit unruhiger, schonungsloser Kamera gefilmt und teilweise stark elliptisch geschnitten - sprich: Le Besco begnügt sich oft damit, eine Szene nur anzudeuten, statt sie ganz zu zeigen. Zusammen mit dem elektrisierenden Soundtrack entsteht ein Sog, der den Zuschauer je länger, desto mehr in einen Strudel von Macht und Gewalt hinunterzieht.

Was macht einen guten, was macht einen schlechten Menschen aus? Diese Frage stellt Le Besco mit ihrem Film, ohne eine klare Antwort geben zu können. Stattdessen erzählt sie uns eine Geschichte, die trotz der harten Realität, dem pessimistischen Grundton und dem unausweichbaren Ende schlussendlich von drei Frauen handelt, die sich lediglich nach menschlicher Zuneigung sehnen. Bas-Fonds ist ein Film über die Liebe und die tiefen Abgründe, in welche die Suche danach führen kann.

ca. 8 von 10 Punkten

Dienstag, 10. August 2010

Das Schiff des Torjägers (Kino Review)



Das Schiff des Torjägers

Das Schiff des Torjägers wurde im Rahmen des 63. Filmestival Locarno gezeigt.

Inhalt:

1994/1995 wurde der Nigerianer Jonathan Akpoborie Torschützenkönig der deutschen Bundesliga. 2001, nun beim VfL Wolfsburg, nahm seine Karriere eine jähe Kehrtwendung, als er mit einem angeblichen Kindersklavenschiff, das vor der Küste des westafrikanischen Gabuns aufgegriffen worden war, in Verbindung gebracht wurde. Praktisch über Nacht wurde er vom Verband entlassen, auch wenn ihm bis heute keine Schuld nachgewiesen werden konnte.
Akpoborie hatte 1998 eine ehemalige dänische Inselfähre für seine Familie gekauft und nach seiner Mutter „Etireno“ getauft. Das Fährschiff verkehrte seither unter der Führung unter anderem seines Bruders zwischen Gabun und Benin. Es ist noch immer unklar, wer dafür verantwortlich ist, dass im April 2001 über 250 Kinder als billige Arbeitskräfte mit diesem Schiff transportiert wurden. Regisseurin Heidi Specogna hat drei Jahre lang recherchiert und Westafrika bereist, um mit Behörden, Hilfsorganisations-Mitarbeiter, den damals beteiligten Kindern und ihren Eltern über die Ereignisse vor neun Jahren zu sprechen.

Review:

An der Pressekonferenz zu Das Schiff des Torjägers in Locarno betonten die Filmemacher, was auch beim Sehen des Filmes sehr bald klar wird: Nämlich, dass es nicht die Absicht war, mit dem Film investigativen Journalismus zu betreiben und herauszufinden, war den nun Schuld war an der Katastrophe war. Vielmehr wird dem Zuschauer die Einsicht vermittelt, dass beide Seiten eine Mitschuld tragen und es bereuen. Einerseits Akpoborie, welcher seiner Familie blind vertraut und sich nicht um die Angelegenheit gekümmert hat, anderseits die Eltern der Kinder, welche in ihrer existenziellen Not ihre Kinder für Geld in ein anderes Land fortsandten.
So ist es eine der herausragenden Qualitäten von Specognas Film, dass er bestrebt ist, unparteiisch an das Thema heranzugehen und sämtliche Perspektiven zu berücksichtigen – vor allem aber diejenigen der Hauptbeteiligten, sprich der verschleppten Kinder. Es ist sicherlich eine journalistische Meisterleistung, dass mehrere der damals Beteiligten aufgefunden und ihr Vertrauen gewonnen werden konnte, sodass sie offen über dieses schwierige Thema erzählten. So erfahren wir aus erster Hand, welche Wirkung dieses Ereignis auf das Leben der Kinder, ihre Berufslaufbahn und ihr Verhältnis zu den Eltern hatte. Als Specogna die mittlerweile jungen Erwachsenen, die sich seit dem Ereignis auf er Fähre nicht mehr gesehen haben, dann auch noch in den Dialog treten lässt, enstehen berührende, aufwühlende Momente.

Der Film versteht sich – wie erwähnt – nicht als kriminologische Angelegenheit, sondern mehr als Reflexion über die unterschiedlichen Lebensweisen in Afrika und Europa im Zeitalter der Globalisierung. So wird die Schere zwischen arm und reich dem Zuschauer brutal vor Augen geführt, wenn man diese Familien davon erzählen hört, wie sie sich am Existenzminimum durchschlagen, und in der nächsten Einstellung Akpoborie mit einem Offroader zum Training vorfährt. Auch die Zerissenheit der afrikanischen Gesellschaft zwischen Modernität und Tradition wird geradezu spürbar gemacht, wenn etwa beim Antritt bei einer Stelle als Fotograf in einem Ritual die Fotokamera gesegnet wird. Solche Momente werden dann sowohl von der Kamera als auch von der Montage mit einem wachen Auge fürs Detail eingefangen.

Über all dem steht der Anspruch der Filmemacher, dem Geschehen ambivalent entgegenzutreten, um der Komplexität des Themas gerecht zu werden. Die durch Hilfsorganisationen verursache energische Berichterstattung zum „Sklavenschiff vor der Küste Westafrikas“ etwa war einerseits nötig, um die globale Aufmerksamkeit auf diesen Missstand zu lenken, anderseits wurde dadurch der Ruf Akpobories von heute auf morgen ruiniert. So repräsentiert auch die „Etireno“ für die einen die Erinnerung an Erniedrigung und Gefangenschaft, für die anderen bis heute Lebensgrundlage und Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Am Ende wird dezent die Frage gestellt, inwieweit bei Kinderhandel und Fussballnachwuchsförderung in Afrika parallele Vorgänge stattfinden – ist der Mensch nicht in beiden Fällen bloss eine Ware?

Das Schiff des Torjägers zementiert den Ruf der Schweiz als Lieferant hervorragender Dokumentarfilme.

ca. 9 von 10 Punkten

Rammbock (Kino Review)



Rammbock

Rammbock wurde im Rahmen des 63. Filmfestival Locarno gezeigt.

Inhalt:

Voller Hoffnungen will Michi (Michael Fuith) seine Exfreundin Gabi in Berlin besuchen gehen. Doch zu den Beziehungsproblemen gesellen sich bald solche von weit apokalyptischerem Ausmass, als Michi in der Wohnung statt Gabi einen blutrünstigen Zombie antrifft. Zum Glück ist der Klempnerlehrling Harper (Theo Trebs) ebenfalls vor Ort und gemeinsam schaffen sie es, den Menschenfresser zu überwältigen und sich in der Wohnung zu verbarrikadieren.
Bald stellt sich jedoch heraus, dass ganz Berlin durch eine Seuche voller solcher Ungeheuer ist. Die beiden versuchen, mit den übriggebliebenen Nachbarn des Blocks zu kommunizieren, doch in dieser Notsituation scheint sich jeder nur um sich selbst zu scheren. Da beginnt Michi, seinen eigenen Plan auszutüfteln, wobei er nur ein Ziel hat: Gabi finden.

Review:

Kommt der moderne Zombiefilm traditionsgemäss aus Amerika, hat er sich in den letzten Jahren geradezu zu einem internationalen Genre ausgeweitet. Heute gibt es Zombies aus Schweden, England, Kanada und Spanien. Warum also nicht auch aus Deutschland? Zu diesem Zweck lässt Marvin Kren mit seinem Spielfilmdebüt Rammbock die lebenden Toten nun endlich auch auf Berlin los. Zugegeben, von der Story her liefert er vor allem altbewährte Kost, wobei sich der Film aber glücklicherweise nicht allzu lange bei der Erklärung aufhält, wie und warum das Virus jetzt ausbricht. Was folgt, ist sowohl spannend als auch kurzweilig und es gefällt besonders die gelungene Mischung zwischen Action (nicht zu viel), Suspense (nicht zu wenig), Drama (nicht aufgesetzt), Humor (genug Selbstironie) und Schockmomenten. Erfreulich auch, dass die Motivation des Protagonisten anfangs zwar deutlich klargemacht wird – Freundin suchen und retten – der Film diese Schiene aber relativ bald verlässt und sich über dieses Standartschema jedes Katastrophen- und Endzeitfilmes sogar eher lustig macht.

Klar, riesige Zombieschlachten ala Dawn of the Dead kann man bei Rammbock nicht erwarten, da das Budget vermutlich nicht einmal für eine einzige Szene in Zack Snyders Film gereicht hätte. Dennoch setzt Kren seine beschränkten Mittel effizient ein und erzeugt beim Zuschauer tatsächlich weniger das Gefühl, dass der Film die grosse Apokalypse nicht zeigen kann, sondern eher, dass er sie nicht zeigen will. Das Geschehen wird konsequent auf die Perspektive der Figuren eingeschränkt, weshalb auch die Situierung der Handlung in einem kleinen Wohnblock mit Innenhof Sinn ergibt. Ausserdem ist es seit Altmeister George A. Romeros Night of the Living Dead gewiss eine Spezialität von Zombiefilmen, gekonnt mit der Verengung und Ausweitung des Raumes zu spielen. In dieser Hinsicht erweist sich auch Kren als fähiger Regisseur, erzeugt doch etwa die gekonnte Kameraarbeit teilweise geradezu ein Gefühl von Klaustrophobie. Auch die genreübliche Sozialkritik blitzt hie und da auf, schliesslich könnte man das Wohnhaus mit Innenhof als recht pfiffige Metapher für eine Gesellschaft auffassen, in deren Mitte sich ein Abgrund auftut.

Am Ende ist das grösste Problem an Rammbock, dass er mit 64 Minuten reichlich kurz geraten ist. Die Länge ist zwar ausreichend und passt fabelhaft zum Umfang der vorhandenen Handlung, doch gerade davon hätte mehr geboten werden müssen, um dem Genre wirklich etwas neues hinzuzufügen. Aber das war wohl auch nicht Krens Absicht. Es bleibt die Hoffnung, dass die lebenden Toten endlich auch einmal in der Schweiz Halt machen, beweist doch dieser Film, dass dafür kein grosses Budget Not tut.

abgerundet ca. 7 von 10 Punkten


Weitere Bilder:





Sonntag, 8. August 2010

Locarno - Tag 4



Am 63. Filmfestival Locarno - Samstag, 7. August

Der Samstag stand ohne Zweifel im Zeichen von John C. Reilly. Auch wenn ich die Pressevorführung seines neusten Filmes Cyrus am Freitag nicht besucht hatte, begab ich mich Punkt 11 in den Palazzo Morettini für die Pressekonferenz des Filmes. Schliesslich erschien nicht nur Regisseur Jay Duplass, sondern auch Reilly höchstpersönlich, bekannt als Nebendarsteller aus zahlreichen Filmen wie The Thin Red Line, The Perfect Storm oder Gangs of New York. Vor allem ist er auch ein häufiger Gast in den Filmen von Paul Thomas Anderson (Hard Eight, Boogie Nights, Magnolia) und dieses Jahr Stargast in Locarno. Die Konferenz erwies sich dann auch als eine ausgesprochen heitere Angelegenheit, während der über das Finanzieren von Independentfilmen in Amerika, Improvisieren am Set, geschnittene Szenen und natürlich Locarno gesprochen wurde.

Um 14 Uhr stand für mich die Pressevorführung des belgischen Historienfilmes Beyond the Steppes an, der mich trotz schönen Bildern nicht wahnsinnig begeisterte (Review folgt). Nach einer längeren Filmpause, während der ich die Sonne genoss und im Festivalcenter am Review schrieb, begab ich mich um 19 Uhr ins Rex zu meinem siebten Lubitsch, nämlich den Stummfilm Three Women, wie schon Lady Wintermere’s Fan mit der hinreissenden May McAvoy.


Am Abend war es dann endlich so weit: Mit Cyrus fand meine Premiere auf der Piazza Grande statt. Ich verkalkulierte mich auch gleich, indem ich das schöne Wetter, das Wochenende und die Zugkraft der US-Komödie unterschätzte. So war der Platz bereits gerammelt voll, als ich gut 40 Minuten vor Filmbeginn eintraf. Mit Müh und Not fand ich dann doch noch einen Platz, auch wenn ziemlich weit hinten. Ich war drauf und drann, meinen Stuhl kurzerhand weiter vorne irgendwo hinzustellen, liess es dann aber bleiben, als ich andere Zuschauer sah, die offenbar die selbe Idee gehabt hatten und nun vom zahlreich answesenden Sicherheitspersonal zurechtgewiesen wurden.
Es stellte sich auch sehr bald heraus, dass mein Platz alles andere als schlecht war, da die Projektionsfläche wirklich riesig ist. Highlight waren erst einmal die Portraits von bekannten Regisseuren, die rechts und links an die Häuserfassaden projieziert wurden. Dazu ertönte ein Mash-Up von Soundtracks grosser (vor allem italienischer) Klassiker, wobei gefühlt die Hälfte von Ennio Morricone stammte, der mit Filmen wie Cinema Paradiso und C’era una volta il west vertreten war. Überhaupt, ich könnte mir wenig schönere Dinge vorstellen als die beiden eben genannten Filme an einem warmen Sommerabend auf der Piazza zu sehen.

Um 21:30 begrüsste Festivaldirektor Olivier Pere das Publikum, worauf die beiden Filme des Abends, Cyrus und Rare Exports: A Christmas Tale vorgestellt und die jeweiligen Regisseure auf die Bühne geholt wurden. Ja, sebstverständlich tauchte auch John C. Reilly nochmals auf und liess es sich nicht nehmen, mit den gut 7000 Menschen auf der Piazza eine musikalische Einstimmübung zu machen. Schliesslich begann dann der erste Film (Review folgt). Die Stimmung war ziemlich gut und der Film wurde, soweit ich es mitbekommen, wohlwollend aufgenommen. Den zweiten Film des Abends sah ich mir nicht an, sondern nahm um Mitternacht den Bus nach Gambarongo.

Ich freue mich jedenfalls richtig darauf, am nächsten Donnerstag To be or not to be in dieser Atmosphäre sehen zu können.

Eindrücke:






Samstag, 7. August 2010

Locarno - Tag 3


Am 63. Filmfestival Locarno - Freitag, 6. August

Da das Wetter wieder komplett aufgeklärt hatte, stand ich bereits um 10 Uhr in Locarno. Als erstes erspähte ich auf der Piazza die Delegation von Hugo Koblet – Pédaleur de Charme, selbstverständlich mit Fahrrad und originalen CILO-Trikots. Anwesend waren auch Hauptdarsteller Manuel Löwensberg und Max Rüdlinger, welcher im Film den Trainer spielt. Zur anschliessenden Pressekonferenz konnte ich ihnen leider nicht folgen, da um 11 mein nächster Film begann.

Ich fand mich also im Kursaal zur Premiere des schweizer Dokumentarfilms Das Schiff des Torjägers ein, der als Eröffnungsfilm der Settimana della critica lief. Zuerst begab sich Regisseurin Heidi Specogna nach vorne und sagte einige wenige Worte zum Film. Anschliessend ging das Licht aus und die Vorführung begann. Als der Abspann vorüber war, ergoss sich minutenlanger, tobender Beifall über den Saal. Nicht ohne Grund, denn der Film ist wirklich etwas besonderes (Review). Hochspannend war auch die anschliessende Fragerunde, zu der sich nicht nur das gesamte Filmteam zur Verfügung stellte, sondern auch der „Hauptdarsteller“ des Filmes, der ehemalige Bundesliga-Spieler Jonathan Akpoborie.

Am Nachmittag begab ich mich in ein Café, um an den noch ausstehenden Reviews zu schreiben. Am Abend gönnte ich mir noch meinen bereits sechsten Lubitsch, Lady Windermere’s Fan. Die Einführung machte dieses Mal Benoît Jacquot, dem ich schon an der Pressekonferenz zu seinem Film Au fond des bois begegnet war. Der Stummfilm basiert auf einer Vorlage von Oscar Wilde und besticht einerseits durch seine Darsteller(innen) und seinem Suspense, welcher damals Alfred Hitchcock inspirierte.


Am Abend fand auf der Piazza bei schönstem Wetter die grosse Premiere von Hugo Koblet statt - anwesend zwei Bundesträte, 25 Parlamentarier und die gesamte Cervelatprominenz - an der ich jedoch nicht beiwohnte, da ich mir den Film ja schon zu Gemüte geführt hatte.

Eindrücke:

Das Radfahrerteam von Hugo Koblet

Schauspieler Max Rüdlinger, im Film Koblets Trainer

Hauptdarsteller Manuel Löwensberg und SF-Journalistin Monika Schärrer

Das Team von Das Schiff des Torjägers bei der Premiere

Regisseurin Heidi Specogna

Jonathan Akpoborie, ehemaliger Bundesliga-Topscorer