Dienstag, 8. Juli 2008

Into the Wild (Kino Review)



Into the Wild

Schauspieler, die sich als Regisseure versuchen, sind keine Seltenheit mehr. Clint Eastwood hat es vorgemacht, andere ziehen nach. Und warum soll Sean Penn, der für dessen Thriller "Mystic River" einen Oscar abstauben konnte, das nicht auch können? Keine Frage - er kann es. Mit seiner neusten Regiearbeit "Into the Wild" legt er ein beeindruckendes Werk vor.

Nach der wahren Geschichte von Christopher McCandless begleiten wir einen jungen, hochintelligenten Studenten wohlhabender Herkunft, der eines Tages plötzlich genug von all den "things" hat und beschliesst, aus dem System auszusteigen. Er packt seinen Rucksack und marschiert los, ist ab jetzt auf der Strasse zu Hause, welche von vielen Halten und Begegnungen gesäumt ist, und an deren Ende nur eines steht: Alaska.

Ein Tramp, der auf der Suche nach der wahren Freiheit quer durch Amerika wandert? Hört sich nicht nach einer Story an, die jemanden 140 Minuten an der Stange zu halten vermag. Doch Penn nimmt die Adaption des Romans in die Form eines Drehbuchs gleich selbst in die Hand und zaubert eine abwechslungsreiche, verschachtelte Story mit Höhen und Tiefen aus dem Ärmel. Er erzählt die Geschichte eines jungen Menschen, der den Materialismus und die Verlogenheit der Gesellschaft nicht mehr aushält und einfach fort will, an einen Ort, wo er keine Lüge leben muss, sondern einfach leben kann. Er sucht nach dem ultimativen Lebensgefühl, man könnte sagen, nach naturgegebener Erleuchtung. Erfreulicherweise wird dabei der Realismus nicht aus dem Auge verloren. Immer wieder wird Chris mit der harten, grausamen Realität konfrontiert, sowohl von der Seite der Gesellschaft wie der Natur. Selbstverständlich wird das Bild des Rebellen und Aussteigers stark heroisiert, romantisiert, aber vor allem die Tatsache, dass Chris die Erkenntnis eigentlich die ganze Zeit vor der Nase gehabt hätte, sie aber durch seine Arroganz nicht sieht, verhindert eine totale Einseitigkeit. Auch die Wahl von Chris' Schwester als Erzählerin schafft eine gewisse angenehme Distanz zur Hauptperson, zudem vermeidet Penn glücklicherweise jegliche übertriebene Sentimentalität. Trotzdem muss man sich mit der Ideologie von Chris, welche ganz offensichtlich von Penn geteilt wird, anfreunden können, um den Zugang zum Film zu finden.

Penn erzählt die Geschichte von Chris' Ausstieg als ein ein zweites Leben nach dem falschen, verdorbenen in der Gesellschaft. Nach der Wiedergeburt folgt die zweite Kindheit, ein Abtasten und Kennenlernen der neuen Freiheit, dann die zweite Jugend, das zweite Mannesalter, das zweite Altern. Im Gedenken an die Romanvorlage wird die Odysse so in Kapitel unterteilt. Genauso wie Chris verweigert sich Penn weiter einer geradlinigen, sturen Erzählstruktur und wechselt wild und ohne Zwang zwischen Rückblenden und Vorblenden. 

Trotzdem, man muss Geduld eingepackt haben, wenn man sich diesen Film ansehen will. Er ist kein Hitchcock. Er nimmt sich Zeit, fasziniert nicht durch rasante Unterhaltung, geschweige denn durch einen Thrillereffekt, und "schnell" ist das letzte Wort, das einem zu diesem Film in den Sinn kommen würde. Er gehört zu dieser Art Kunst, die einen packt, mitreisst und zum träumen verleitet. Nicht durch Computereffekte und Fantasywelten, sondern durch seine ehrliche, existenzielle, zeitlose, epische, persönliche, frische, elektrisierende Art. Und das ist er nämlich im höchsten Masse, Kunst. Gar nicht zwingend nur wegen den einmaligen, unbeschreiblich schönen Naturaufnahmen, die man ja auch in Dokumentationen finden kann, sondern auch weil er das Auge des Zuschauers ebenso auf unsere ganze Umwelt wie auf die kleinen Dinge des Lebens lenkt, und ihn lehrt, diese zu schätzen. Und nicht zuletzt lässt er uns den Wert des menschlichen Lebens selbst erkennen.

Die Bilder spielen natürlich dennoch eine grosse Rolle. Penn setzt den Schwerpunkt auf das Wasser, das er in seiner archaischen Schönheit zu einem Symbol der Natur an sich stilisiert - wild, rätselhaft, unkontrollierbar, frei. Das Wasser ist nicht nur das Lebenselexir, sondern auch der Pfad, dem Chris folgt, um aus der Gesellschaft heraus zu kommen, gleichzeitig bedeutet es aber auch Gefahr, denn es reisst mit und setzt Grenzen. Bezeichnend ist die Szene, in der Chris nachts in der Wüste von einem urplötzlichen Hochwasser heimgesucht wird und die Wassermassen wie die Erkenntnis über ihn hereinbrechen. Am nächsten Tag lässt er das Auto stehen und verbrennt sein Geld. Der erste Schritt des neuen Lebens ist getan. Nicht nur, dass das Wasser für die gesamte Natur steht, es ist auch ein Symbol für den Film selbst. Mal wild, mal stürmisch, mal plätschernd, mal trüb, mal eiskalt,
Daneben fängt der Film auf phänomenale Art und Weise Elemente der Natur ein und begeistert mit seinen ruhigen, zeitlosen und mystischen Aufnahmen. Klar ist es bei beinahe allen Filmen besser, sie auf Grossleinwand zu geniessen; hier ist es Pflicht. Und es lohnt sich auf jeden Fall, man bekommt für sein Geld viel geboten. Aber wer ernsthaft über den Preis des Kinobillets nachdenkt, der ist sowieso falsch in diesem Film.

Nach der Story und den Bildern müssen die Schauspieler natürlich auch noch erwähnt werden. Dabei muss man als erstes festhalten, dass Emile Hirsch ein Idealbesetzung ist. Er beweist, dass er viel mehr als ein Leonardo Di Caprio-Doppelgänger ist, und bringt die Zerrissenheit, die Motivation, die Leidenschaft seiner komplexen Figur sehr natürlich und bewegend rüber. Auch wenn ihm zeitweise die Sicherheit der schauspielerischen Erfahrung zu fehlen scheint, so meistert er seine Aufgabe als weitgehende One-Man-Show mit Bravour und in den restlichen Szenen stehen ihm die mit ebensolchem Feingefühl ausgewählten Nebendarsteller zur Seite. Sowohl beim Casting als auch bei der Schauspielführung scheint Penn etwas von Clint Eastwood gelernt zu haben. Marcia Gay Harden überzeugt ebenso wie William Hurt, Jena Malone, Kristen Stewart und - eine Überraschung - Vince Vaughn. Aber alle stehen sie ein wenig im Schatten von Hal Holbrook als Rentner, der ebenso wie Chris vor der Gesellschaft geflohen ist, jedoch indem er sich nach innen gewendet hat statt nach aussen. Er schafft es, in seinen wenigen Filmminuten eine Beziehung zum Zuschauer aufzubauen, was die Oscarnomination wohl verdient macht. Aber das wäre sie für Emile Hirsch auch gewesen.
At last but not least, wie immer, der Soundtrack. Dieser stammt von Eddie Vedder, besteht aus ohrwurmverdächtigen Folksongs und fügt sich nahtlos in die melancholischen Bilder ein.

Und schlussendlich harmonieren in diesem Film die Kamera, die Regie, die Schauspieler und die Musik so sehr, dass er die zahlreichen Episoden der Geschichte in einem packenden Strom erzählt und einige Momente schafft, die nahe daran sind, das ultimative Lebensgefühl auf der Leinwand zu verkörpern. Magie pur.

Das engagierte Gesamtkunstwerk "Into the Wild" ist eine kraftvolle Ode an das Leben. Ein zweieinhalbstündiger Bio-Energy-Drink, der in seiner tiefsten Menschlichkeit berührt. 

ca. 9 von 10 Punkten

"I read somewhere... how important it is in life not necessarily to be strong... but to feel strong."


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