Donnerstag, 6. November 2008

Gomorra (Kino Review)



Gomorra

Der Italiener Roberto Saviano veröffentlichte 2006 seinen ersten Roman "Gomorra". In dem Buch zeichnet der gebürtige Neapler sorgfältig recherchiert ein möglichst wirklichkeitsgetreues Bild der Verbrecherorganisation Camorra -  nicht zu verwechseln mit der sizilianischen Mafia - und sorgte damit für viel Wirbel. Die Verfilmung von Matteo Garrone folgte nun dieses Jahr und gewann in Cannes den Grossen Preis der Jury.

Weite Flächen von braunem Gras, seit langer Zeit nicht mehr restaurierte Strassen, bröckelnde Mauern, kahle und schmutzige Apartments. In Neapel und seinen Vororten dominiert das Bild von dauerhaftiger Armut. Das ganze Gebiet wird von der Camorra kontrolliert, welche mit Drogenhandel, Textilherstellung und anderem nicht nur einen grossen Teil der lokalen Wirtschaft kontrollieren, sondern sogar etwas wie eine Sozialversicherung ersetzen, indem sie die Familien der Mitglieder notdürftig versorgt. In diesem Umfeld erzählt der Film die weitgehend unabhängigen Geschichten von fünf Männern, von denen jeder einen anderen Zugang zur Camorra darstellt. 
Als erstes wäre da der dreizehnjährige Totò, der sein ganzes Leben mit einer einzigen Zukunftsperspektive aufgewachsen ist und nun mit Drogenschmuggel im Geschäft einzusteigen beginnt, während der etwas ältere Rumtreiber Marco zusammen mit seinem Freund Ciro Szenen aus Scarface nachspielt und davon träumt, den Boss der hiesigen Gang aus dem Weg zu räumen. Roberto ist bei seinem Vater abseits des Verbrechens aufgewachsen, muss aber nun, da der finanzielle Notstand an die Tür klopft, als Handlanger für den zwielichtigen Geschäftsmann Franco arbeiten. "Don" Ciro gibt sich seit Jahren mit dem Job des Geldkuriers zufrieden und gerät genauso wie der langjährige Schneider Pasquale nun plötzlich zwischen die Fronten der Banden und in den Brennpunkt der Gewalt.

"Gomorra" beginnt mit einer Gewalttat, nämlich der Exekution von feindlichen Bandenmitgliedern, wie man es aus den grossen amerikanischen Mafiafilmen im Stile von The Godfather kennt. Dieser allererste Anschein kann aber gewaltig trügen. Der Film, mit grösstenteils unbekannten Gesichtern besetzt und an Originalschauplätzen gedreht, geht nämlich komplett gegen den Strich von Pendants aus Übersee und ist wohl eine der grössten Überraschungen des italienischen Kinos der letzten Jahre. 
Matteo Garronne, der auch bei der Drehbuchadaption seine Hand im Spiel hatte, inszeniert den im höchsten Masse brisanten Stoff mit viel Mut, Einfallsreichtum und vor allem Konsequenz. Das Ergebnis ist für Hollywood-Sehgewohnheiten wahrscheinlich äusserst fremd, da viele Elemente, die man sich aus leichtverdaulichen Unterhaltungsfilmen gewohnt ist, vollständig fehlen. Hier gibt es keine Dramatisierung, keine Beschleunigung, keine Vereinfachung, keine lückenfüllende Action und keine künstliche Spannung. Um der Romanvorlage gerecht zu werden, hat sich Garrone den Anspruch auf Realismus auf die Fahne geschrieben und setzt die Geschichte dementsprechend sehr ruhig, unaufgeregt und gnadenlos ehrlich um. Von einer Geschichte kann man schliesslich auch gar nicht reden, denn durch die Aufteilung in fünf ständig abwechselnde Handlungsstränge verhindert er, dass man dem Film allzu leicht folgen kann und macht ihn gerade deswegen umso glaubwürdiger.
Einmal steht das Drehbuch nicht im Zeichen einer omnipräsenten, alles bestimmenden Dramaturgie, sondern will viel mehr das Gefühl vermitteln, dass es genau so in der Realität geschehen könnte. Dokumentarisch kann man das deswegen noch nicht nennen, aber die bruchstückhafte Erzählform spiegelt die Komplexität der Situation schon sehr gekonnt wieder. Und dazu kommt, dass "Gomorra" mit seiner grossartigen Inszenierung ohne Frage näher an den Zuschauer herankommt, als es je ein noch so reisserischer Dokumentarfilm schaffen würde.

Garronne setzt nämlich auch hier auf Realismus, indem er viele Szenen mit Handkameras dreht, die Schauplätze rein gar nicht künstlich ausleuchtet und den Charakteren stets sowohl auf den Fersen als auch auf Augenhöhe bleibt. Und das ist dann auch der bemerkenswerteste Punkt des Filmes und der Grund, warum seine Rechnung aufgeht: Der Zuschauer ist dabei. Er ist gefesselt, gebannt, fühlt sich als wäre er selbst genau in diesem Moment dort und glaubt, was er sieht. Natürlich setzt das aufgrund minderwertiger oberflächlicher Reize ein gewisses Interesse des Zuschauers voraus, denn es wäre abwegig, "Gomorra" als Thriller zu bezeichnen. Es ist mehr dieses unmittelbare Dabei-sein, das Mitfiebern mit den Figuren und Wissen-wollen wie sich die Sache weiterentwickelt, weshalb der Film eine so starke Wirkung entfalten kann. 
Dies ist unter anderem auf jeden Fall auch einer grandiosen Kameraführung (inklusive ein paar langen, schlichtweg genialen Einstellungen) und höchst gelungenen Charakteren plus Schauspielern zu verdanken. Letztere sind sehr sorgfältig ausgearbeitet und durch äusserst glaubwürdige (Laien-)Darstellern entsteht dadurch ein vor allem gegen Schluss enormer subtiler Spannungsaufbau. Da fällt es kaum mehr auf, dass in dem ganzen Film nur eine einzige (noch dazu eher nebensächliche) Explosion enthalten und kein Soundtrack zu hören ist, abgesehen von so genannter "On-Musik".


Formal gesehen ist "Gomorra" ein mindestens so überzeugender wie überraschender Film, der einmal mehr eindringlich zeigt, dass es sich lohnt, über den Tellerrand zu schauen. In seinen besten Momenten erinnert er stark an Fernando Meirelles' Meisterwerk City of God und ist ihm in Sachen Mut vielleicht sogar ebenbürtig. Anderseits fehlt ihm dann doch dessen Spannung oder Dynamik, und bisweilen ist die ganze Sache etwas unspektakulär. Nicht dass Effekthascherei wünschenswert gewesen wäre, aber einige Leute mögen gewisse Schwierigkeiten mit der nüchternen und unsentimentalen Art des Filmes haben.
Richtig stark wird "Gomorra" eigentlich immer dann, wenn es ans Eingemachte geht. Wenn er in die dreckigsten Tiefen der mafiosen Organisation abtaucht und dort zu graben anfängt, wo man ansonsten im Kino nicht hinsieht. Sehr bald legt er dann auch die offensichtliche Botschaft der Geschichte frei; dass die Camorra, trotz aller äusseren Selbstweihräucherung und Mystifizierung, in der Realität sehr sehr weit davon entfernt ist, was man als so ehrenhafte wie coole Vereinigung aus Filmen kennt. Nach 135 Minuten Film steht das unangenehme Bild einer omnipräsenten Organisation, die wie eine Spinne über dem gesamten Leben des gezeigten Armenviertels hockt, ihre Fäden überall spinnt und alle Fliegen früher oder später einfägt. Doch sie wird nicht etwa von einem Boss kontrolliert, sondern läuft viel mehr wie eine Maschinerie, die von selbst in Gang kommt und sich selbst immer mehr antreibt, ohne dass irgendjemand den vollständigen Überblick oder die absolute Macht hätte. 
Und die menschlichen Rädchen dieses allgegenwärtigen Systems sind alles andere als ehrenhafte Gangster: Hier gibt es keine Ehre, keine Würde. Wenn ein Hauch von einem Kodex aufblitzt, wie Frauen und Kinder zu verschonen, dann ist das mehr lächerlich und wirkt geradezu ironisch angesichts der dreckigen Grausamkeit, die immer wieder folgt. Hoffnung gibt es indes auch kaum, wenn die ganze Familie vom Jungen bis zum Grossvater an kriminellen Geschäften irgendwelcher Art beteiligt ist und auch der Staat in seiner Korruption davon profitiert, wenn sogar die grossen Stars mit ihrer Designermode indirekt mit von der Partie sind.


"Gomorra" demontiert konsequent und ohne wegzuschauen den Mythos Camorra und legt offen, was ihre Schäfchen in Wirklichkeit sind: Es sind nur Verbrecher, ein trauriger Abschaum der Gesellschft, eine brutale Organisation, die sich nicht um humanitäre Werte oder Gerechtigkeit schert. Da ist nichts Schönes, nichts Glorreiches, nichts Romantisches daran. Die Camorra mag den Müll der Stadt illegal entsorgen, doch genauso ist sie selbst der Abfall, der überall auf den Strassen herumliegt und alles vergiftet.
Garronnes Film mag nicht über die ganze Länge herausragend oder atemberaubend sein, bleibt aber im Endeffekt ein nahe gehendes, ungeschöntes und wichtiges Werk, das sich praktisch nahtlos einreiht in die Reihe von hervorragenden Gangsterfilmen des Jahres 2008 und ihr gleichzeitig eine neue, angenehm ungewohnte Note hinzufügt. Ohne Frage ein heisser Anwärter für den nächsten Oscar für den besten Ausländischen Film.
Wenn in der zweiten Hälfte des Filmes der Krieg ausbricht, ist das kein kalkuliertes, gesittetes, strategisches Niedermähen gegenseitiger Fronten, sondern Chaos und ein wahlloses Niederschiessen von Menschen. Und nach diesem Film weiss der Zuschauer, dass es die einzelnen Menschen sind, die unter dem System Camorra leiden. Es scheint fast so, als wäre Italien das wahre No Country for Old Men.

"Gomorra" reisst der Camorra mit eindringlichen Bildern die Maske vom Gesicht und entromantisiert das Genre auf eine brutal realistische Art und Weise.

abgerundet ca. 8 von 10 Punkten



2 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

hab gerade den trailer geschaut und deine geniale review gelesen. bin platt *mit tränen kämpf*... als italiener geht mir die sache sehr nahe, nicht zuletzt im wissen, dass es nicht nur film ist :-(
mal schauen, ob ich den mut aufbringe, mir den film anzutun.

...btw: carry on! du machst wirklich super arbeit!

Jonas hat gesagt…

Erstmals danke!

Ja für einen hunderprozentigen Zürcher wie mich mag die ganze Thematik schon eher "weit weg" scheinen, aber ich fand den Film gerade deswegen so gut, weil er mich danach noch länger beschäftigt hat und ich wirklich das Gefühl hatte, da nimmt man etwas mit. Teilweise ist er schon recht hart, aber wenn es dich interessiert, eine klare Empfehlung.

Vom Trailer bin ich eigentlich nicht sehr begeistert, unter anderem, weil er für meinen Geschmack etwas zu viel verrät.