Samstag, 11. April 2009

Chinatown (Kino Review)



Chinatown

Es ist nun auch schon bald vier Jahre her, seit Roman Polanski seinen letzten Film, Oliver Twist, gedreht hat. Das Enfant Terrible von Hollywood mag seinen Zenit überschritten haben, trotzdem bleibt er einer der interessantesten Regisseure überhaupt, erregte doch gerade letzten Herbst der Dokumentarfilm Roman Polanski:Wanted and Desired Aufsehen. Das war Grund genug für das Zürcher Kino Xenix, ihm zum 75ten Geburtstag eine Filmreihe zu widmen. Gezeigt wurde dabei selbstverständlich auch Chinatown, Polanskis Film Noir-Hommage mit Superstar Jack Nicholson. Nach dem Motto "besser spät, als nie" folgt nun mein Review zu diesem Klassiker.

Handlung:
Der Film spielt in Los Angeles gegen Ende der 1930er Jahre. Die wirtschaftliche Depression scheint einigermaßen überwunden, und Privatdetektiv Jake Gittes hat eine florierende Detektei mit mehreren Mitarbeitern. Er ist Ex-Polizist, sein früherer Einsatzort war Chinatown. Dort lautete seine Maxime noch, lieber nichts zu tun wenn man nicht müsse, sich also lieber „herauszuhalten“.
Nach Abschluss einer üblichen Ermittlung wegen Ehebruchs kommt eine, wie sich später herausstellt, falsche Mrs. Mulwray in sein Büro und beauftragt ihn, ihrem Mann eine Affäre nachzuweisen. Nur zögernd nimmt Gittes den Fall an. In den folgenden Tagen beschattet er Mr. Mulwray, der als Ingenieur bei den Wasserwerken arbeitet. Dieser scheint sich aber viel mehr für Kanäle und Flüsse zu interessieren als für andere Frauen. Eine ganze Nacht verbringt er alleine am Meer. Als Jake ihn nach einigen Tagen doch mit einem jungen Mädchen auftreibt, macht er Fotos von den beiden, die er an seine Auftraggeberin abgibt. Kurz darauf erscheint ein Artikel auf der ersten Seite einer Zeitung, die Affäre entlarvend.
Am nächsten Tag erscheint Evelyn Mulwray, diesmal die echte Mrs. Mulwray in Gittes' Büro, lässt ihm von ihrem Anwalt eine Anklage vor die Nase knallen und verschwindet. Das kann sich Gittes natürlich nicht bieten lassen und sucht Mr. Mulwray auf, um die Sache mit ihm zu klären. Doch er kommt zu spät: Hollis Mulwray ist tot, ertrunken in einem der Kanäle. Die Polizei geht von einem Unfall aus, doch Jake entschliesst sich, der Sache auf eigene Faust weiter nachzugehen.
(frei nach Wikipedia)

Polanskis Filme zeichnen sich stets dadurch aus, dass sie die Stilmittel eines Genres beherrschen und gleichzeitig in eine neue Form variieren, sei es der Vampirfilm in Tanz der Vampire, der Okkultismusfilm in Rosemary's Baby oder der Kriegsfilm in The Pianist. In "Chinatown" nimmt er sich den Film Noir vor und schuf nicht nur ein Glanzstück dieses Genres, sondern auch ein Meilenstein der Filmgeschichte. Zusammen mit seinem ausgezeichneten Team, neben Jack Nicholson und Faye Dunaway vor allem Drehbuchautor Robert Towne und Komponist Jerry Goldsmith, entführt er den Zuschauer ab der ersten Minute in das L. A. der 30er, in eine Grossstadt aus verrauchten Büros, düsteren Landstrassen, abgelegenen Staudämmen und staubigen Flussbetten.
Jake Gittes ist ein Privatdetektiv, wie er im Buche steht: Ein schmieriger, gerissener und verschlagener Schnüffler, ein flegelhafter, agressiver, arroganter und zugleich schlauer, undurchsichtiger und gepflegt gekleideter Mann, der seinen dreckigen Job für genau so ehrenwert wie den eines Bankers hält. Doch Gittes ist weit mehr als das, er ist auch menschlich und hinter seiner zynischen, verbitterten Fassade ehrlich, verletzlich und nicht so hart, wie er es gerne sein würde. Es ist diese starke und vielseitige Charakterisierung, die zusammen mit einer einmaligen Besetzung - dem unglaublichen Jack Nicholson - den Film über weite Strecken zu tragen vermag. Denn wir identifizieren uns nicht mit Gittes, weil er gut und aufrichtig ist, wir identifizieren mit der Wechselbeziehung seiner guten und schlechten Eigenschaften; seinem rüden Äusserem und seinem empfindsamen Inneren. Das sieht man beispielsweise schon an Gittes' kultiger Nasenverletzung, die er durch den ganzen Film als Symbol seiner Verletzlichkeit tragen muss.
Ihm gegenüber steht die mysteriöse Evelyn Mulwray, deren wahre Identität Gittes erst nach einer ganzen Weile kennen lernt und aus der er nicht schlau werden kann. Besetzt mit der beinahe überirdischen Diva Faye Dunaway, stellt auch sie eine klassische Person des Film Noir dar, nämlich die Femme Fatale, die geheimnisvolle, erotische, wortwörtlich unfassbare Verführerin. Doch wie alle Figuren in diesem Film ist auch sie längst nicht auf das zu reduzieren, was sie im ersten Moment zu sein scheint, und mit der Zeit entdeckt Gittes auch ihre empfindliche, um Selbstkontrolle bemühte, sonderbar traurige Seite. Es scheint die beiden ausserdem zu verbinden, dass sie beide unter einer dunklen Vergangenheit zu leiden scheinen, einer unangenehmen Erinnerung, die sie nicht preisgeben wollen. Mit diesem Spiel macht Polanski seine Figuren noch rätselhafter, gerade Gittes, der früher im berüchtigten Chinatown arbeitete.

"Chinatown" ist ein Film, der wie ein Puzzle funktioniert. Auch wenn der eigentliche Mord erst nach einer ganzen Weile geschieht und Polanski keineswegs nur alten Kaffee aufwärmt, so läuft der Film nach dem klassischen "Whodunit"-Prinzip, dem schrittweisen Aufdecken der Wahrheit. Drehbuchautor Towne macht des dem Zuschauer dabei nicht einfach und lässt ihn mit ausgeklügelten Wendungen immer wieder entdecken, dass die scheinbare Wahrheit bloss Lüge war.
Und dazu kommt, dass "Chinatown" weit mehr ist als bloss ein sehr gut geschriebener Krimi. Polanski versetzt die Verunsicherung, die in Amerika durch den Watergate-Skandal ausgelöst wurde, und die düsteren Erfahrungen seines eigenen Lebens in die 30er, die Zeit des Aufschwungs nach der Depression, und lässt diesen Film zu einem bitteren Kommentar zu Themen wie Obrigkeit, Individualität, Macht, Führerschaft und Missbrauch werden. Symbolisch dafür steht in erster Linie, dass der Geschichte lose auf der historischen Persönlichkeit des William Mulholland basiert. Polanski teilt den Industriegiganten - ein bemerkenswerter Trick - in zwei Charaktere auf, sozusagen in eine gute und eine böse Seite. Auf der einen Seite ist da Hollis Mulwray, der ehrliche, schuldbewusste, zur Einsicht gelangte Geschäftsmann, auf der anderen Seite Noah Cross - gespielt durch die Film Noir-Legende John Huston - der durchtriebene, gierige, rücksichtslose Unmensch, der für seinen Erfolg über Leichen geht. So kann man "Chinatown" auch als eine unangenehme Abrechnung mit dem amerikanischen Traum sehen. Der Traum von Menschen wie Mulwray, aus einer trockenen Wüste eine blühende Grossstadt entstehen zu lassen, wird betrogen von den korrupten, gesinnungslosen Machthabern. Auch Gittes, der Zyniker, beginnt mit der Zeit daran zu glauben, er könne es schaffen, die ganz grossen Fische zu fangen und das Chinatown - die Vergangenheit - hinter sich zu lassen. Dies stellt sich aber natürlich als eine blosse Illusion heraus. Schlussendlich hängt alles im Film mit dem Wasser zusammen, diesem Lebenselixier und Machtinstrument, das in seiner Dualität gleichzeitig das Leben, aber auch den Tod bringt.

Es ist bedauernswert, dass 1974 auch The Godfather Part 2 erschien und Polanskis Film deswegen von 11 Oscarnominationen nur den Preis für das beste Drehbuch gewannt. Verdient hätte "Chinatown" allemal mehr, gehört er doch zu den grossen Momenten Hollywoods. Natürlich wären viele Filmkonsumenten des modernen Bombastkinos vermutlich irritiert, wenn nicht gar gelangweilt ob der Ruhe und Unaufgeregtheit, mit welcher der Film seine Story erzählt. Trotzdem ist er bei weitem kein Arthouse-Werk, dessen Zugang schwer fallen sollte, geschweige denn verstaubt. Polanski hat nicht nur einen höchst intelligenten, immer wieder überraschenden Krimi geschaffen, sondern auch ein äusserst spannendes Stück Kinogeschichte, das eine selten gesehen Wirkung auf den Zuschauer zu entfalten vermag. Das hängt mit der zeitlosen, beinahe als perfekt zu bezeichnenden Atmosphäre des Filmes zusammen, die in ihrem grandiosen Zusammenspiel vom Innenleben der Figuren und der Aussenwelt eine sonst nur bei Hitchcock gesehene Klasse erreicht. Dazu kommt die überzeugende Musik von Jerry Goldsmith, ungeheuer viele Details und die grandios geschriebenen, musterhaften Dialoge. Es ist meistens hell, unter der gleissenden Wüstensonne Kaliforniens, aber die Geschichte, die Polanski dort erzählt, ist dennoch so finster und zwielichtig, wie es nur ein klassicher Film Noir sein kann. Und ständig fragt sich der Zuschauer: Was ist das dunkle Geheimnis der Vergangenheit? Was sind die unschönen Ereignisse, die Gittes zu dem Menschen gemacht haben, der er ist? Was ist geschehen, damals in Chinatown?

"Chinatown" ist ein mit unvergleichlicher Atmosphäre und einem hervorragenden Jack Nicholson gesegnetes Filmpuzzle, das sich Stück für Stück zu einem modernen, düsteren Krimi-Thriller der Extraklasse zusammensetzt.

ca. 9 von 10 Punkten