Brazil
Es waren einmal sechs junge Männer, die im englischen Fernsehen eine Comedy-Sendung namens "Flying Circus" hatten. Der Erfolg der anarchistisch-genialen Sketche wuchs und wuchs, bis sie 1974 ihren ersten Kinofilm machten, dem weitere folgen. Zwei von ihnen schafften später sogar den Durchbruch im internationalen Filmgeschäft. Der eine ist John Cleese, bis heute ein gern gesehener Gast in Komödien. Der andere ist Terry Gilliam, der sich hinter der Kamera versuchte. Auch er geniesst noch heute hohes Ansehen, lieferte er doch Erfolge wie 12 Monkeys, Fear and Loathing in Las Vegas und natürlich Brazil, dem Science Fiction Film, mit dem er 1985 mit seiner Karriere als Regisseur richtig loslegte.
20:49 Uhr. Irgendwo im 20ten Jahrhundert. Irgendwo in einer riesigen Stadt, die von gigantischen, anonymen grauen Wolkenkratzern beherrscht wird. Es ist Weihnachten. Wegen einem Fliegendreck im Büro eines Beamten wird fäschlicherweise die Fahndung nach einem Buttle statt einem Tuttle ausgegeben. Und so wird kurz darauf bei der Familie Buttle, die gerade gemütlich um dem Christbaum sitzt, die Tür eingebrochen und ein Spezialkommando der Polizei, flankiert von einem Anwalt, stürmt herein, packt den Familienvater und zerrt ihn ein einer Art Zwangsjacke davon, nicht ohne von dessen fassungsloser Frau eine Reihe Forumulare unterscheiben zu lassen und ihr eine Verhaftungsquittung in die Hand zu drücken. Sam Lowry, ein Archivar beim Ministerium für Information, erhält den Auftrag, den Fehler zu beseitigen, doch die Sache gerät ausser Kontrolle.
"Brazil" ist ein komischer Film. Er ist eine negative Zukunftsversion, eine abstruse Dystopie. Hier sind für alles und jeden Formaliäten nötig, die Anzahl der Beförderungen zählt, die Kinder in den Strassen spielen Geiselnahme, ein Bombenanschlag beim Dinner ist nichts Ungewöhnliches und ein Handwerker, der einfach nur ohne Papierkram seine Arbeit tun will, ist ein Terrorist. Auch die Menschen in dem ganzen System sind alle irgendwie krank, seien es lächerlich aufgemotzte ältere Frauen, die von einer Schönheitsoperation zur nächsten rennen, Sekretärinnen, die blind und unbeteiligt protokollieren, oder Büroangestellte, die sich erbitterte Konkurrenzkämpfe um den Schreibtischplatz liefern. Und über allem steht der Staat mit seinen verworrenen, undurchschaubarern, endlos vernetzten Organen, die sich in Gesetzen, Regeln und Bestimmungen gegenseitig übertreffen und mit einem Beamtenheer und einer schlagkräftigen Polizeimiliz die Kontrolle über die Bevölkerung sicher stellen. Es herrscht ein Klima der Angst, des ständigen Verdachts. Sam Lowry ist ein kleines, unbedeutendes Rädchen in diesem gewaltigen, verstaubten, erbarmungslosen Uhrwerk. Im Gegensatz zu seinem Umfeld scheint er noch einen Rest Menschlichkeit zu besitzen, doch er hat die Hoffnung aufgegeben und führt mit beinahe zynischer Gleichgültigkeit sein tristes, ambitionsloses Leben. Erst als er Jill Layton trifft, flammt die Sehnsucht nach zwischenmenschlicher Wärme in ihm auf, was zu einer verzweifelten Form von Mut, Wut und Torheit führt. Doch was soll ein Mensch gegen diese stumme Tyrannei schon ausrichten?
"Brazil" ist ein Film über die Schrecken der Bürokratie, die moderne Form der Diktatur. Es ist kein angenehmer Film, vor allem dank dem gewagten Ende. Er versucht dem Zuschauer dieses Gefühl von Einsamkeit, von Gefangensein, von Machtlosigkeit gegenüber diesem ungreifbaren, übermächtigen Apparat von Institution zu vermitteln. Ein Gefühl, das einem zeitweise geradezu die Kehle zuzuschnüren scheint. Denn in all seiner Intelligenz, Abstraktheit und beinahe avantgardischer Kunsthaftigkeit bleibt der Film sehr direkt, ehrlich, spricht den Zuschauer auf persönlicher Ebene an und nimmt die Missstände der modernen Gesellschaft gnadenlos ins Visier, indem er sie mit einer Zukunftsversion unzimperlich ad Absurdum führt. Und trotz dieser düsteren Botschaft lässt Gilliam genau dort, wo man es nicht erwartet, etwas Platz für Romantik, für Liebe, für Träume. Auf überspitzten Kontrast bedacht, fügt er hie und da eine berührende, in dieser Umwelt magisch wirkende Szene ein und erreicht damit, dass "Brazil" ein Film ist, der nahe geht. Sofern man es zulässt.
Der Zugang zu diesem Werk ist nicht unbedingt leicht zu finden, vor allem aus heutiger Sicht. Die surreale Bildsprache Gilliams ist schliesslich etwas völlig anderes, als der gängige beinharte Realismus des postmodernen Kinos. Auf jeden Fall ist es vorteilhaft, wenn man mit anderen Filme wie The Wall oder A Clockwork Orange, am besten auch mit der aberwitzigen Wallstreet-Satire The Hudsucker Proxy, schon etwas anfangen konnte. Anderseits ist es genau diese kunstvolle Umsetzung, welche "Brazil" unsterblich und noch heute zu einem nicht selten gesehenen Vertreter in Listen der besten Filmen aller Zeiten gemacht hat. Wenn man sich etwas in Gilliam'sche Gewässer vorgewagt hat, dann kann man sich an den übertriebenen Masken, den düsteren Kulissen, den klaustrophobischen Kamerafahrten und den so offensichtlich künstlichen Modellaufnahmen nicht sattsehen. Ausserdem haben die staubigen 80er-Bilder einfach einen ganz eigenen Charme. An Kreativität fehlte es bei der Inszenierung - wie man es bei Gilliam gewohnt ist - auf jeden Fall nicht.
Da er seine Botschaft vor allem auf visueller Ebene vermittelt, kommt das Drehbuch bei "Brazil" vielleicht oft etwas zu kurz. Die Geschichte mag an Fahrenheit 451 erinnern und bietet, wie schon erwähnt, zwar viele gute Einfälle, aber die klassische Dramaturgie steht nicht unbedingt im Mittelpunkt, weshalb sich manche Zuschauer auch hier etwas irritiert fühlen dürften. Ein offensichtlicherer Punkt sind da schon die Schauspieler. Jonathan Pryce (Fluch der Karibik) bringt die Unsicherheit und Naivität seines Charakter überzeugend rüber und darf als Idealbesetzung bezeichnet werden. Er ist einfach sofort sympathisch in diesem so unsympathischen Umfeld, was sich für den Film als immens wertvoll erweist. Kim Greist passt optisch gut in ihre Rolle und verkörpert deren Ambivalenz zwischen unschuldigem Engel und abgebrühter Einzelgängerin nicht grandios, aber zufriedenstellend. Superstar Robert de Niro sieht man hier einmal in einer völlig ungewohnten, eher kleinen Rolle und seine Auftritte als Superheld der anderen Art sind schlicht köstlich. Gilliams Monty Python-Kollege Michael Palin spielt eine weitere ziemlich abstruse Rolle, welche im Film längst nicht die einzige Anspielung auf die Nazionalsozialisten darstellt, und ist in seiner ständigen aufgesetzten, lächerlichen Fröhlichkeit gerne gesehen. Auch die restliche Riege der Nebendarsteller, von Ian Holm bis zu Jim Broadbent, ist einwandfrei gecastet und unterhält durch bewusstes Overacting. Es macht also durchaus Spass, sich von Terry Gilliam in die Zukunft entführen zu lassen, nicht zuletzt dank den ausreichend vorhandenen, satirisch überspitzten Details. Ein Film, bei dem es viel zu entdecken gibt. Für Fans des aussergewöhnlichens Kinos eine ganz klare Emfpehlung.
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