Samstag, 24. Januar 2009

Keoma (DVD Review)



Keoma

Legends never die

Wenn man den Namen Franco Nero in Verbindung mit Italowestern hört, denkt man wohl als erstes an Django. Dies hat auch einen guten Grund, schliesslich wurde mit diesem Film von Sergio Corbucci ein ganzes Genre angesichts seiner Antihelden und teilweise gesellschaftskritischen Aspekte geprägt. Dabei wird jedoch ein anderer Film von Nero oft allzu rasch vergessen. Das mag daran liegen, dass Keoma von Enzo Castellari erst am Ende der grossen Italowestern-Ära veröffentlicht, kein grosser Erfolg war und in Deutschland sogar fälschlicherweise als eine Art Fortsetzung von "Django" vermarktet wurde. Umso schöner ist es, dass man diese Perle des italienischen Films heute in restaurierter Form und ungekürzt auf DVD geniessen kann. Denn zwar wurde der Italowestern schon 1968 mit Spiel mir das Lied vom Tod beeindruckend zu Grabe getragen, Castellari schüttet aber mit "Keoma", dem letzten grossen Film dieses Genres, 1976 das Grab endgültig zu.

Handlung:
Nach einem Massaker an Indianern findet William Shannon als einzigen Überlebenden den kleinen Indianerjungen Keoma, ein Halbblut, und nimmt ihn als seinen Sohn in seine Obhut. Nachdem Keoma als Erwachsener im Bürgerkrieg gekämpft hat, kehrt er in seine Heimat zurück. Die Stadt ist in der Gewalt von Caldwell, einem ehemaligen Südstaaten-Offizier, der eine Pockenepidemie dazu nutzt, mit seinen Banditen die Stadt zu terrorisieren.
(frei nach Wikipedia)

Die erste - vielleicht die wichtigste - Erkenntnis über "Keoma" ist, dass es sich hier nicht um Mainstream handelt. Dies kann als eine Warnung gesehen werden, ist aber gleichzeitig der Grund, weshalb der Film sich neben den grossen Meisterwerken des Genres behaupten kann und bis heute seine Grösse nicht verloren hat. Würde man Filme nach dem Grad der Eigenwilligkeit, des sturen Umsetzens von Visionen messen, dann wäre "Keoma" unangefochten ein grossartiger Film. Doch in der Realität ist oft das Gegenteil der Fall: Filme, die ihr eigenes Ding durchziehen, werden vom Publikum nicht akzeptiert und spalten die Filmgemeinde. Wenn ich im Folgenden meine Meinung zu diesem Film schreibe, dann tue ich das im Wissen, dass der Zugang zu diesem Film stärker als bei dem meisten anderen aussergewöhnlichen Western eine Frage des Geschmackes und der Offenheit ist. Trotzdem möchte ich vorgreifend schon festhalten, dass dieser Film Qualitäten hat, die man ihm nicht absprechen kann - Geschmack hin oder her.


Der Film beginnt in einem Dorf, bestehend aus Barraken, zerstörtem Holz, Schrott, Schlamm und Dreck. Über der postapokalyptisch anmutenden Kulisse weht ein gnadenloser Wind, dessen Staub alles zerfrisst. In dieser Einöde taucht ein einsamer Reiter auf, gehüllt in einen schmutzigen Umhang, dicke Bandagen und zotteliges Haar. Er trifft auf eine alte, zerlumpte Frau. Sie wechseln wenige Worte und plötzlich schwenkt die Kamera hinüber - ohne Schnitt! - und der Zuschauer befindet sich unerwartet auf einer grünen Waldlichtung, übersät von den verstümmelten Überresten eines Indianermassakers.
Schon in der ersten Minute macht Castellari deutlich, woran es ihm liegt. Die Rückblenden sind nur eines von vielen Beispielen, welche verblüffenden visuelle Ideen hier zu sehen sind. Gerade die furiose, fliessende Verbindung von Gegenwart und Vergangenheit, wenn etwa Keoma in personam durch seine Erinnerungen schreitet, kennt man höchstens noch von einigen wenigen künstlerisch ambitionierten Filmen aus späterer Zeit, wie etwa Lone Star.

Vergangenheit ist dann auch eines der zentralen Themen von "Keoma". Sie scheint allgegenwärtig, hängt schwer und düster in der Luft, und verspricht in klassischer Western-Manier alles andere als Erlösung. Auch Keoma selbst, eine schwerfällige, archaische und eindrückliche Erscheinung, dessen blaue Dämonenaugen jede Aufmerksamkeit auf sich ziehen, wird als Archetyp schlechthin des Genres dargestellt. Man meint geradezu zu sehen, wie die Vergangenheit in Form eines Kreuzes auf seinem Rücken lastet. Selten zuvor wurde gnadenloser mit dem makellosen Bild des Hollywoodhelden abgerechnet denn hier. Keoma ist ein Ausseinseiter, ein dreckiges Halbblut und dazu noch ein Kriegsveteran, gleich einer Mischung aus John Rambo und Elephant Man. Längst hat er den Glauben an das Land und dessen Leute ("Your People?") verloren, ist seit seiner Kindheit zum grimmigen Einzelkämpfer mutiert, und doch kehrt er zurück, und doch rettet er eine hilflose, schwangere Frau vor dem Tod. "Keoma" ist eine Geschichte von Verstossenen, vom Abschaum der Gesellschaft. Ein Zeile aus dem Film bringt die besonders treffend auf den Punkt:

"I have to do it alone. Because i am alone." 

Ein ähnliches Schicksal wie Keoma teilt etwa George, der Nigger. Die Befreiung aus dem Sklavendasein brachte ihm nicht nur die Entdeckung der Freiheit, sondern auch der Tatsache, wie wenig sie in diesem Land wert ist. Auch Lisa, die Schwangere, zeichnet sich in erster Linie durch ihre Schwäche und Kränklichkeit aus, sie symbolisiert gleichzeitig die Unschuld wie die Hoffnung auf eine bessere Zukunft, auf ein Weiterleben, welche in ihrem Bauch auf das Sonnenlicht wartet. Sie steht weitab von jeglichem Klischee der romantischen, verhängnisvollen Liebe des Helden, und wie die anderen muss auch sie sich schlussendlich überwinden und Stärke zeigen.

Neu ist dies gewiss nicht, schon gar nicht in einem Film mit Franco Nero, aber es ist doch erfreulich wie treffsicher und durchdacht die Sozialkritik in "Keoma" gelungen ist. Dies bezieht sich nicht nur auf die Verkörperung der Unterdrückung in Form des brutalen, machtgierigen Grossgrundbesitzers Caldwell. Zu den inhaltlich herausragenden Ideen des Filmes gehört auch die Pockenepidemie, mit welcher sich Caldwells Bande legitimiert, die Hilfsbedürftigen wie Vieh zusammenzutreiben und in Ghettos zu pferchen, was mehr als einmal an die Methoden des Ku-Klux-Clan erinnert. Dies gibt dem Film einen unglaublich ernsten Ton, der durch die ganze Atmosphäre und Kulisse noch verstärkt wird und ihm schlussendlich eine zeitlose Intensität verleiht. Castellari übertrifft sogar "Django", indem er die schlammige, düstere Kulisse einer Kleinstadt schafft, die den Eindruck eines Nachkriegslandes, einer postapokalyptischen Hölle auf Erden erweckt. "Keoma" ist ohne Frage einer der härtesten, düstersten und erwachsensten Western schlechthin.

Dies hängt auf jeden Fall auch mit der Brutalität und Gewalt im Film zusammen. Ganz im Stil der 70er verzichtet Castellari auf jegliche Beschönigung des Vorgangs des Tötens und zitiert gerne einmal den grossen Meister Sam Peckinpah (Getaway), indem er die Opfer einer Schiesserei durch die Wucht der Kugel in Zeitlupe nach hinten schmettern lässt. Hier schafft Castellari dann auch auf beachtenswerte Weise die Brücke zwischen Kunstfilm und Actionwestern. Über "Keoma" kann man sagen, was man will, die Schiessereien sind auf jeden Fall mangelfrei inszeniert. Dies reicht von mit fantastischen Ideen auf erfrischend neue Weise präsentierten Western-Duellen - etwa die berühmte Szene, da Keoma für jeden Gegner einen Finger hochhält und "abzählt" - bis zu einem ausgiebigen Shootout, einem der brachialsten in der Geschichte des Genres.
Der grosse Eindruck, den die Schiessereien hinterlassen, ist ebenfalls der gelungenen Choreographie und Bildkomposition zu verdanken. Diese kommen in jenen Szenen besonders zum Ausdruck, zeichnen jedoch auch den restlichen Film aus. Mit einer Penibilität, als würde er ein klassisches Gemälde malen, platziert Castellari jeden Mann, jedes Pferd, jedes Gesicht, jede Haustür genau dort, wo sie hingehört. Damit schafft er es, aus den Kulisse und Schauspielern das Optimum herauszuholen und macht die Bilder von "Keoma" noch heute interessanter als bei den meisten anderen Filmen dieser Zeit. Als filmische Oper, als Tongedicht erreicht "Keoma" eine visuelle Dichte und Kunstfertigkeit, die man bisher in einem Western wohl nur bei Sergio Leones Spiel mir das Lied vom Tod geniessen konnte. Dass Castellari Leone deswegen nicht das Wasser reichen kann, muss wohl kaum erwähnt werden - aber das will er auch nicht, denn die beiden Filme setzen die Akzente deutlich anders.

Anhand des bisherigen Textes fragen sie sich wahrscheinlich, was denn so kontrovers sein soll an "Keoma"? Warum wurde anfangs hervorgehoben, dass der persönliche Geschmack bei diesem Film eine etwas grössere Rolle spielt als gewöhnlich?
Es ist bekannt, dass Italowestern bei weitem nicht jedermanns Sache sind. "Keoma" stellt ausserdem noch einen Bruch innerhalb dieses Genres dar, was ihm allein schon den Zugang zum Mainstream verwehrt. Abgesehen von der schmutzigen, von Verwüstung gezeichneten Kulisse steht etwa der ernste Ton des Filmes, der manchmal sogar surreale Züge annimmt, im krassen Gegensatz zu den seichten Western-Parodien, die zu dieser Zeit entstanden. Castellari arbeitet dabei sehr bewusst mit christlichen Symbolen: Die mystische Geschichte des Halbbluts Keoma - übrigens ein realer indianischer Name - stellt streckenweise starke Bezüge zu biblischen Überlieferungen wie der von Joseph, seinem Vater Jacob und seinen Halbbrüdern, den Gleichnissen des verlorenen Sohns und des barmherzigen Samariters oder - am deutlichsten - der Passion Jesu Christi. Ergänzt wird dies mit der Figur der alten Frau, welche sowohl den Tod als auch Keomas Schicksal verkörpert und immer wieder in Keomas "Wahn" auftaucht. "Keoma" stellt ein ungewöhnlich starkes Wechselspiel zwischen der Handlungs- und der Bedeutungsebene her.

Die Kritik, die man zu Castellaris FIlm jedoch am allermeisten hört, greift die Musik an. Vor allem die Fans stören sich daran und bemängeln, dass der einzig wahre Ennio Morricone hier schmerzlich zu vermissen ist. Das stimmt so nicht. Es war ein bedeutender Schritt, der das schlussendliche Bild des Filmes vervollständigen sollte, dass sich Castellari für die italienischen Musiker Guido & Maurizio De Angelis entschied. Sehr wohl, es war ein sehr eigenwilliger Entscheid, der möglicherweise am Ende für den geringen finanziellen Erfolg des Filmes verantwortlich war. Tadel an der Musik ist jedoch insofern hinfällig, weil jene Teil des Gesamtbildes ist und die unverwechselbare Atmosphäre verdeutlicht. Inspiriert vom Western Pat Garret and Billy the Kid beabsichtigten Castellari und Nero ursprünglich, ihren Film mit Songs von Leonard Cohen und Bob Dylan zu untermalen, was sie dann aber wieder zurücknahmen. Ein Glück, denn was De Angelis anschliessend ablieferten, gehört zum Eindrücklichsten in Sachen Soundtrack überhaupt. Die Lieder, die einen Dialog zwischen einer sehr tiefen Männer Stimme und einer hohen Frauenstimme darstellen, sind gewiss gewöhnungsbedürftig, sobald man sich jedoch mit diesem eigenwilligen Musikstil angefreundet hat - bei mir dauerte dies etwa zwei Minuten - lassen sie einen nicht mehr los. Die Mischung aus Ballade und Oper ist es schliesslich, welche der Musik von "Keoma" ihre ungeheure Faszination verleiht und bestimmte Szenen so intensiv macht.

Sicher, Castellaris Film hat Schwächen. Diese liegen vor allem am eher niedrigen Budget, stören das Gesamtbild jedoch herzlich wenig. "Keoma" ist ein Western, wie man ihn so einfach noch nie gesehen hat. Das Drehbuch ist spannend, gespickt mit eingängigen Dialogen und in seiner Sozialkritik äusserst erwachsen. Bemerkenswert dabei ist, dass oft ohne genaue Vorlage gedreht wurde und die jeweiligen Schauspieler ihre eigenen Sätze sprachen. Auch die Schauspieler wurden von a bis z passend bis hervorragend besetzt, von der atemberaubenden, angenehm un-stereotypischen Olga Karlatos bis zum Mann mit dem Mörderblick, Franco Nero. Entstanden ist ein Western, der - wenn man sich auf ihn einlässt - unvergessliche Momente und eine magische, surreale, beinahe psychedelische Atmosphäre bietet, auch wenn er es beim Massenpublikum verständlicherweise nicht leicht hat. Ein Glück, sterben Legenden wie Keoma nie.

"Keoma" ist ein atmosphärischer und packender Film, der sich durch eine hervorragende Kameraarbeit und künstlerischen Anspruch von seinen Genregenossen abhebt. Selten war der Western so düster, so brutal, so energiegeladen und berauschend - ein Meisterwerk und Franco Neros grösste Stunde.

abgerundet ca. 9 von 10 Punkten


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