Realität über Virtualität
Am gestrigen Sonntagabend hat die Academy mit der sechsfachen Auszeichnung von The Hurt Locker bewiesen, dass die Oscars auf Indie-Kurs bleiben wollen.
Genau wie letztes Jahr, als Slumdog Millionaire die Hauptpreise einsacken durfte und Publikumsliebling The Dark Knight links liegen gelassen wurde, musste James Cameron, der Technokrat hinter Avatar, den ganzen Abend sitzen bleiben, obwohl er in gleich drei Kategorien nominiert war, während seine Ex-Frau Kathryn Bigelow sowohl die Goldstatue für die beste Regie als auch für den besten Film entgegennehmen durfte. Aber schön der Reihe nach.
Gestern Abend/heute Morgen um 1 Uhr habe ich mich spontan dazu entschieden - obwohl ich es dieses Jahr eigentlich nicht vorgehabt hatte - das Schlafen für eine Nacht bleiben zu lassen und mir stattdessen die diesjährigen Oscars live zu Gemüte zu führen.
Es ging dann auch schon mit dem berüchtigten Red Carpet los, als die Stars begannen, über das endlose rote Samt gemächlich in Richtung Kodak Theatre zu schlendern. Tatsächlich war das bereits einer der spannendsten Abschnitte des Abends, da praktisch alles mit Rang und Namen in Hollywood aufmarschierte und sich brav für Interviews zur Verfügung stellte. Leider tat sich der Pro7-Moderator nicht gerade durch Höflichkeit hervor, indem er etwa die Macher von The Last Station einfach so links liegen liess, als er endlich James Cameron erspähte und sich sofort diesem zuwandte.
Um 2 Uhr begann dann die eigentliche Show, indem die diesjährigen Hosts, Steve Martin und Alec Baldwin, gleich mal auf Kosten praktisch aller Hauptnominierten ihre Scherze austauschten. So wurde die Figur von Hans Landa aus Inglourious Basterds von Steve Martin folgendermassen vorgestellt:
- "Christoph Waltz plays a Nazi who's obsessed with finding Jews."
- " Soooo, Christoph..."
Insgesamt bleibt jedoch anzumerken, dass Martin&Baldwin für einige Lacher sorgten und die Stimmung generell erfolgreich auflockerten, mit der Zeit jedoch wurden ihre Auftritte auch etwas eintönig. Überhaupt bleibt der Eindruck, dass die Oscar-Show dieses Jahr eher unharmonisch und dramaturgisch unbefriedigend ablief.
Dies hängt etwa damit zusammen, dass die Sendung nebst den ständigen Werbeunterbrechungen ziemlich gestresst wirkte. Als würde einem der Sensemann höchstpersönlich mit der Sanduhr im Nacken sitzen wurden vor allem gegen Ende vorwärtsgeprescht, wobei Reden wie die des Gewinners für den besten fremdsprachigen Film schlicht orchestralisch abgeklemmt wurden und richtige Showeinlagen zwischen den Kategorien eine Seltenheit darstellten. Der peinliche Höhepunkt war erreicht, als am Ende bei der Königskategorie, dem "Best Picture", nicht einmal mehr die Nominierten verlesen wurden, sondern Tom Hanks direkt den Gewinner verkündete. Von einem gloriosen, glanzvollen Abschluss der Show fehlte damit jede Spur.
Dennoch gab es auch dieses Jahr einige erinnerungswürdige Momente. Hier sind sie, die Favorite Oscar-Moments 2010:
- Sandra Bullock spricht im Interview auf Deutsch zu ihren Verwandten
- Die Fake-Interviews, die für jeden Nominierten in der Kategorie "Bester Animationsfilm" erstellt wurden
- Ben Stillers genialer Auftritt als waschechter Na'vi
- Martins und Baldwins Parodie von Paranormal Activity
- Der etwa dreiminütige Tribut an den Horrorfilm - ein Genre, das bei den Oscars gewöhnlich übergangen wird - und das anschliessende Grinsen auf dem Gesicht von Quentin Tarantino
- Sandra Bullocks Ansprache bei den Kamera-Oscars ("Your job: make me look good!")
- Die Rede von Joe Letteri (Visual Effects - Avatar): "Remember: The world we live in is just as amazing as the one we created for you!"
- Die Dankesrede von Jeff Bridges', weil er noch immer kein Redner ist und sich wahrscheinlich höchstens mit einem "White Russian" vorbereitet hat.
- Stanley Tuccis Rede zu Ehren von Meryl Streep
Zum eigentlichen Ergebnis der Preisverleihung gibt es an sich nicht viel zu sagen. Zu der Übersicht der Nominierten und Gewinner geht es HIER.
Überraschungen suchte man praktisch vergebens, auch wenn die Niederlage von Avatar unerwartet deutlich ausfiel. Von neun Nominationen gingen die schlumpfigen Indianer sechs Mal leer aus, fünf Mal davon auf Kosten von The Hurt Locker. Es muss ein bitterer Abend gewesen sein für James Cameron, auch wenn keiner der Avatar-Gewinner (Kamera, Szenenbild und Visual Effects) zu erwähnen vergass, dass dieser Oscar eigentlich Cameron gebühre und er sowieso ein Genie und Visionär sei.
Dass Jeff Bridges' Oscar überfällig war (verdientermassen für Crazy Heart), ist klar, und auch Sandra Bullocks Sieg - Schauspieltalent hin oder her - zeichnete sich bereits ziemlich deutlich ab, ganz zu schweigen von Christoph Waltz, der von Hollywood für seine schelmisch-perfide Darstellung in Inglourious Basterds geehrt wurde.
Insgesamt darf man - auch wenn ich leider einige der nominierten Filme noch nicht gesehen habe - wohl davon sprechen, dass die meisten Preisträger ihre Auszeichnung redlich verdient haben. Wirklich schade war eigentlich nur, das Michael Hanecke mit seinem beeindruckenden Film Das weisse Band zugunsten des argentinischen Filmes The Secret in Their Eyes übergangen wurde. Auch Tarantino ging leider leer aus, wobei Inglourious Basterds meiner Meinung nach in praktisch allen acht Kategorien, in denen er nominiert wurde, einen Oscar verdient gehabt hätte.
Nichtsdestotrotz kann sich die Auszeichnung von The Hurt Locker sehen lassen. Nebst den Spekulationen, dass das neue Wahlsystem den Ausschlag gegeben hat, war es ohne Zweifel einmal mehr ein überaus politischer Entscheid der Academy, Avatar gerade nicht zum besten Film zu küren. Dadurch sendet Hollywood nämlich für einmal eine durchaus lobenswerte Botschaft in die Welt: Statt dem eskapistischen Drang nach Pandora nachzugeben, beschäftigen wir uns mit den echten Problemen, die das Amerika von heute hat. In der Traumfabrik hat gestern Abend die Realität einen Sieg davongetragen.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen