Drei Dinge, die man an The Artist kritisieren kann (und warum man ihn dennoch lieben muss)
Wer bis jetzt noch nichts von The Artist, dem neuen Stumm- und deshalb Sensationsfilm aus Frankreich, gehört hat, wird dies spätestens am 26ten Februar – dann werden nämlich wieder einmal die Oscars verteilt, wobei ein Grossteil der wichtigen Preise an den Film von Michel Hazanavicius gehen dürfte. Verdientermassen, soviel sei schon einmal vorgemerkt. Ich habe den Film gestern zum zweiten Mal im Kino gesehen (das erste Mal im Oktober am Zurich Film Festival) und nehme dies – nach einer langen Schreibpause – zum Anlass, ein kleines Anti-Review zu schreiben.
Ein Anti-Review deshalb, weil die allermeisten Kritiken zu The Artist positiv bis überschwänglich ausgefallen sind und praktisch einstimmig die Magie und Liebe loben, mit welcher der Film die Geschichte des alternden, mit der neuen Technik des Tonfilms hadernden Stummfilmstars George Valentin schildert. Nun geht es mir keineswegs darum, den Film aus Trotz schlecht zu reden – im Gegenteil – ich möchte lediglich einige Aspekte hervorheben, die im allgemeinen Jubel (meines Wissens) weitgehend untergegangen sind.
Deren drei, genauer gesagt.
1. A Star Is Born (Again)
James Mason und Judy Garland in A Star Is Born
Am ehesten bemerkten Kritiker noch, dass die Story von The Artist alles andere als neu ist. Dem ist tatsächlich so: Die mit Abstand grössten Ähnlichkeiten finden sich zum Klassiker A Star Is Born. Dabei handelt es sich um einen der Urstoffe Hollywoods, der bisher bereits dreimal mit je unterschiedlicher Starbesetzung verfilmt wurde: 1937 mit Janet Gaynor und Fredric March, 1954 mit Judy Garland und James Mason und 1976 mit Barbra Streisand und Kris Kristofferson (zudem ist seit längerem eine neue Version von Clint Eastwood in Planung). Erzählt wird (zumindest in der 1954er-Version, die ich gesehen habe) vom alternden Hollywoodschauspieler Norman Maine, der per Zufall mit der jungen Sängerin Esther Blodgett zusammenstösst und in ihr das Talent zum Star entdeckt. Tatsächlich bringt er ihre Karriere ins Rollen und allmählich steigt sie zum grössten Star der Traumfabrik auf, während Maines eigener Stern immer weiter sinkt. Die Parallelen zu The Artist sind unübersehbar, vor allem in den Szenen, als Maine depressiv wird, da niemand mehr seinen Namen kennt und statt ihm nun Esther jeden Tag ins Studio geht und die Filme dreht, für die er früher bekannt war. Bezeichnend ist die Tatsache, dass ich mich gestern im Kino fragte, wann denn die Szene komme, da Georg Valentin als letzten Versuch der Rettung seines Star-Status einen aufwändigen Film auf einem Boot dreht – bis mir einfiel, dass diese Szene aus A Star Is Born stammt.
Freilich gibt es auch Unterschiede, so ist die Tonlage zumindest in der 1954er-Version weit düsterer und zynischer (Maine begeht am Ende Selbstmord), ausserdem fehlt der filmhistorische Hintergrund der Tonfilmrevolution. Letzteres und die Leichtherzigkeit der Geschichte erinnert vielmehr an einen anderen Über-Klassiker, nämlich Singin' in the Rain mit Gene Kelly.
Natürlich bedient sich Hazanavicius' Film auch einer Vielzahl weiterer Inspirationsquellen und verwebt sie geschickt zu einem Produkt, das zu keinem Zeitpunkt den Anschein eines billigen Abklatsches macht. Zudem kompensiert The Artist seine recht vorhersehbare, typische Grundhandlung mit einem grossen Einfallsreichtum in Sachen Detail.
2. Übersymbolisierung
Eine weitere grosse Qualität des Filmes ist es, dass er sich nie dazu verleiten lässt, sein Quellenmaterial zu parodieren. Stattdessen sehen wir einen ernsthaften, sichtlich von tiefstem Herzen kommenden Versuch, das zu rekonstruieren, was die Filme dieser Ära (zumindest aus heutiger Sicht) auszeichnet: Den Charme. Dazu gehört auch eine filmische Symbolik, die weit weniger subtil ist als wir es uns heute gewohnt sind, sei es in der Form von Gesten, Objekten oder Zwischentiteln. In The Artist wird diese Symbolik meist unterhaltsam und mit einem Augenzwinkern eingesetzt, etwa wenn die Geschichte mit einem Film-im-Film eröffnet wird, in dem sich der von Georg Valentin gespielte Revolutionär auf einer Foltermaschine befindet und von dem bösen Schergen angeschrieen wird: "Speak! SPEAK!"
Hie und da, insbesondere zu Beginn der zweiten Hälfte, ist es aber auch zu viel des Guten: Um zu zeigen, wie sich Valentin im Karrieretief befindet, greift Hazanavicius tief in die Trickkiste und zeigt uns George Valentin, wie er in einem seiner Filme symbolisch im Sand untergeht; George Valentin, wie ein Porträt von ihm symbolisch versteigert wird; George Valentin, wie ein Foto von ihm auf der nassen Strasse symbolisch von den Menschen zertrampt wird – die Liste ginge tatsächlich noch weiter. Das Problem liegt nun darin, dass der Film an dieser Stelle seine gute Laune vorübergehend abgelegt hat und die Übersymbolisierung deshalb ohne ironische Brechung bleibt und geradezu bleiern im Raum schwebt. Dieser einzige dramaturgisch schwächelnde Teil des Filmes geht jedoch rasch vorüber.
3. Kein Ton macht noch keinen Stummfilm
Douglas Fairbanks in The Mask of Zorro
Die beiden vorherigen Punkte lassen sich sicher leicht als zweitrangig gegenüber den offensichtlichen Qualitäten des Filmes abtun – der letzte und grösste Kritikpunkt greift jedoch tiefer. Ich möchte eine provokante These aufstellen: The Artist ist keine wirkliche Stummfilm-Hommage, weder auf der Ebene des Inhalts, noch der Bilder. Vielmehr ist er eine Hommage an das klassische Hollywood, wie es zur Zeit des Stummfilms noch gar nicht existierte.
Zuerst zu den Bildern: Zweifellos ist die Kameraarbeit von Guillaume Schiffman fantastisch und wurde zu Recht für einen Oscar nominiert – in wunderschönem Schwarzweiss und mit gekonnten Bildkompositionen, die in ihrer Pracht auch mal mehrere Sekunden stehen gelassen werden können, wird die Atmosphäre der frühen Traumfabrik heraufbeschworen. Stilistisch bewegen wir uns dabei jedoch nicht im Jahre 1927, wo die Filmhandlung beginnt, sondern vielmehr in den frühen, wenn nicht gar späten 30ern.
Indizien dafür gibt es zahlreiche, darunter die präzisen Kamerafahrten (waren in der Stummfilmzeit rein technisch schwierig zu lösen), die geradezu sklavische Einhaltung des continuity system (entstand so erst durch den Tonfilm, während Stummfilme die Raumgestaltung viel freier handhabten) oder der Einsatz von Weitwinkelobjektiven (kamen in Hollywood erst mit dem Film Noir der 40er auf). Der vielleicht auffälligste Anachronismus lässt sich leicht durch ein kleines "Experiment" aufzeigen:
- Man schaue diese Szene von The Iron Mask (1929) mit Douglas Fairbanks. Man zähle dabei die Nahaufnahmen.
- Man schaue diese Szene vom Anfang von The Artist und tue dasselbe.
- Man schaue den Trailer von Ninotchka (1939) ohne Ton.
Der Unterschied ist offensichtlich: Während sich die Kamera an Douglas Fairbanks nicht näher als in eine Amerikanische (bis oberhalb des Knies) heranwagt und ihn ausschliesslich in statischen, eventuell leicht geschwenkten Aufnahmen filmt, kann sich seine Hommage, George Valentin, zahlreiche Nahaufnahmen und verhältnismässig dynamische Einstellungen zeigen. The Artist befindet sich ästhetisch somit näher bei einem Film wie Ninotchka, welcher ein ganzes Jahrzehnt später produziert wurde.
Auf der Ebene des Inhalts ist The Artist ähnlich "modern": Autothematische Filme, die sich ironisch-parodistisch dem eigenen Business, dem Phänomen Hollywood, annähern, traten vor allem in der frühen Tonfilmzeit vermehrt auf, etwa mit Screwball-Komödien wie What Price Hollywood? (1932), Lady Killer (1933), Footlight Parade (1933), Boy Meets Girl (1938), Hellzapoppin' (1941) und eben A Star Is Born (1937). Romantische Komödien, wie es The Artist eine ist, waren für die Stummfilmzeit untypisch.
Versucht The Artist also etwas zu sein, das er nicht ist? Lügt er uns gar an?
Keineswegs. Schliesslich beginnt der Film zwar 1927, seine Geschichte erstreckt sich jedoch bis ins Jahr 1934, eine Zeit, in der sich das klassische Hollywood bereits vollständig etabliert hat. Hazanavicius porträtiert die Revolution des Tonfilms also dadurch, dass er das Anfangs- und das Endstadium dieser Entwicklung zu einem Film verbindet. Eine andere Möglichkeit stand ihm vermutlich gar nicht offen, da ein "echter" Stummfilm beim breiten Publikum kaum so gut angekommen wäre (dass es der Film tut, ist schon beinahe ein Wunder) und dementsprechend niemals Budget von 15 Millionen Dollar erhalten hätte.
Es mag ein filmhistorischer Widerspruch sein, einen frühen Tonfilm als Stummfilm zu inszenieren, doch dem Film gelingt gerade damit die selbe Brücke, die am Ende der Held im Film schlagen kann: Genau wie Georg Valentin ein Relikt aus einer anderen Zeit verkörpert und schlussendlich die Fusion des Alten mit den Neuen schafft, so stellt The Artist als Stummfilm ein exotisches Wesen in der heutigen Kinolandschaft dar und schafft es durch die ästhetische Verbindung mit dem vergleichsweise modernen klassischen Hollywood, das heutige Publikum auch ohne Worte anzusprechen und – offensichtlich – zu begeistern.
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