Sonntag, 26. Februar 2012

L'enfant d'en haut (Review)



L'enfant d'en haut

Inhalt:

Simon (Kacey Mottet Klein) lebt mit seiner grossen Schwester Louise (Léa Seydoux) allein in einer kleinen Wohnung in einem Industriegebiet. Während Louise sporadisch als Putzfrau arbeitet und damit mehr schlecht als recht für den Lebensunterhalt der Beiden sorgt, verdient sich Simon sein eigenes Geld auf eher ungewöhnliche Weise: Er stiehlt Skier, Schneebrillen und sonstige Winterausrüstung.
Dazu fährt er am Morgen mit dem Lift zum nahegelegenen Skigebiet hoch und spaziert durch Umkleidekabinen und Restaurants auf der Suche nach unbeaufsichtigten Sachen. Diese verkauft er an seine Freunde und Angestellte der Restaurants und Hotels. Dies erfordert einiges an Verhandlungsgeschick, und manchmal muss er die Skier wie neu, manchmal wie gebraucht aussehen lassen. Doch während Simons "Geschäft" mit der Zeit umfangreicher und damit riskanter wird, verkompliziert sich auch die Beziehung zur Schwester.

Kritik:

So wie der letztjährige Locarno-Gewinner Abrir puertas y ventanas, der von drei auf sich allein gestellten Schwestern handelte, dreht sich auch L'enfant d'en haut um zwei Geschwister, die sich in der Welt der Erwachsenen zurechtfinden müssen. Zufall - oder hat der Schweizer Film eine besondere Affinität zu solchen Themen? Die einzige wirkliche Verbindung besteht vermutlich darin, dass es sich in beiden Fällen um intime Familienporträts handelt und solche in einem kleinen Land wie der Schweiz vielleicht eine besondere Bedeutung haben (man denke nur an den Klassiker Höhenfeuer). Ausserdem entwickelt sich der neue Film von Ursula Meier (Home) mit der Zeit in eine ziemlich andere Richtung als Abrir puertas, vor allem aufgrund einer überraschenden, geradezu schockierenden Enthüllung in der zweiten Hälfte, die hier nicht verraten werden soll.

Bemerkenswert an L'enfant d'en haut ist sicherlich, wie liebevoll die Beziehung zwischen Simon und seiner grossen Schwester geschildert wird. Dabei wird das klug geschriebene Drehbuch mit absolut überzeugenden Schauspielern - Home-Veteran Kacey Mottet Klein und Inglourious Basterds-Newcomerin Léa Seydoux - und einer stimmungsvollen Inszenierung kombiniert. Meier setzt weniger auf grosses Drama und schwere Gefühle, sondern siedelt ihre Geschichte im alltäglichen Strom des Lebens an und schafft es, viele Dinge ohne Worte und geradezu nebenbei zu erzählen. So legt Simon im Film eine grosse Geschäftstüchtigkeit an den Tag, es bietet sich ihm jedoch keine andere Möglichkeit, als diese in seiner Tätigkeit als Ski-Dieb zu kanalisieren. Ironischerweise entwickelt er dabei ein hohes Mass an Professionalität und verhält sich organisierter und erwachsener als seine grosse Schwester, die ziellos umherschweift und sich mit Männern abgibt, die nur das eine wollen.

Das Herzstück dieses Filmes ist also ganz und gar die Geschichte - eine herzerwärmende, berührende Geschichte, die sowohl mit leisem Humor wie mit stiller Tragik aufwartet. Dementsprechend unaufgeregt ist die Kameraarbeit von Agnès Godard, die mit naturalistisch ausgeleuchteten, ruhigen Bildern überzeugt. So erinnert L'enfant d'en haut im besten Sinne etwas an die Indie-Dramen der späten Achtziger und frühen Neunziger, die von dysfunktionalen Familien am Rande der Gesellschaft handelten (beispielsweise What's Eating Gilbert Grape).

Mit L'enfant d'en haut zeigt Ursula Meier das Schweizer Filmschaffen einmal mehr von seiner besten Seite, wofür sie in Berlin verdientermassen einen Silbernen Bären (Sonderpreis) gewonnen hat.

ca. 8 von 10 Punkten


Dieses Review ist erschienen auf OutNow.

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