Sonntag, 6. Januar 2013

Rückblick Kinojahr 2012


Damit dieser Blog nicht ganz vom Staub zerfressen wird, gibt es wieder mal eine Top 20 des vergangenen Kinojahres. Gezählt wurden alle neuen Filme, die ich vom Januar bis zum Dezember 2012 im Kino gesehen habe (insgesamt etwas über 60), einschliesslich Filmfestivals (weshalb gewisse Einträge in der Schweiz noch nicht regulär im Kino gelaufen sind).


1. Jagten (Thomas Vinterberg, DNK)



2. Amour (Michael Haneke, FR/DE/AUT)




3. A moi seule (Frédéric Videau, FR)




4. War Witch (Kim Nguyen, CA)




5. Iron Sky (Timo Vuerensola, FI/DE)




6. Tinker Tailor Soldier Spy (Tomas Alfredson, GB)




7. Kapringen (Tobias Lindholm, DNK)




8. Holy Motors (Leos Carax, FR)




9. The Perks of Being a Wallflower (Steve Chbosky, USA)




10. The Dark Knight Rises (Christopher Nolan, USA) 





11. Moonrise Kingdom (Wes Anderson, USA)
12. Intouchables (Olivier Nakache & Eric Toledano, FR)
13. James Bond – Skyfall (Sam Mendes, GB/USA)
14. The Avengers (Joss Whedon, USA)
15. The Ides of March (George Clooney, USA)
16. Magic Mike (Steven Soderbergh, USA)
17. Wreck-It Ralph (Rich Moore, USA)
18. Looper (Rian Johnson, USA)
19. L'enfangt d'en haut (Ursula Meier, FR/CH)
20. Shame (Steve McQueen, GB) 

Erwähnungen: We Need to Talk About Kevin, Beasts of the Southern Wild, End of Watch, The Cabin in the Woods, Argo

Kommentar:

Zwar gab es letztes Jahr in meinen Augen eine grosse Menge an guten bis sehr guten Filmen – an wirklich herausragenden Filmen war das Kinojahr 2012 aber leider eher arm, insbesondere was die amerikanische Filmindustrie anbelangt (der erste US-Film ist auf Platz 9). Die grossen Enttäuschungen waren für mich (gemessen an den Erwartungen) The Hobbit, Prometheus und The Amazing Spider-Man. Dafür war das dänische Kino wieder einmal für sehr angenehme Überraschungen gut (Jagten und Kapringen, ausserdem En kongelig affære, der es aber nicht in die Liste geschafft hat). Auch Frankreich hat sich einmal mehr bewährt und hat gleich drei Mal in die Top 10 Eingang gefunden (in der Top 20 gar 5 Mal). Bezüglich Hollwood besteht die Hoffnung, dass die bei uns immer erst im Frühling eintrudelnden Oscar-Filme (Lincoln, Les Miserables, Zero Dark Thirty) wieder frischen Wind bringen – allgemein verspricht 2013 wieder ein erfolgreicheres Kinojahr zu werden. Man darf gespannt sein.


Sonntag, 26. Februar 2012

Haywire (Review)



Haywire

Inhalt:

Ein Café in einer verschneiten Gegend in Upstate New York. Mallory (Gina Carano) tritt ein und setzt sich an einen Tisch. Wenig später fährt ein Auto vor und Aaron (Channing Tatum) steigt aus. Er betritt das Café und setzt sich Mallory gegenüber. Nach einem kurzen Wortwechsel schüttet er ihr heissen Kaffee ins Gesicht und schlägt sie zu Boden, doch sie wehrt sich und schafft es, ihn zu überwältigen, wobei sie ihm den Arm bricht. Hastig packt Mallory den sprachlos dastehenden Scott (Michael Angarano) und fragt ihn, wo sein Wagen stehe.
Auf der Fahrt erzählt ihm Mallory, wie es so weit gekommen ist: Sie ist Söldnerin und arbeitet für eine private Firma. Nach einem Auftrag in Barcelona, wo sie zusammen mit Aaron eine Geisel befreite, wurde sie von ihrem Auftraggeber Kenneth (Ewan McGregor) auf eine Mission nach Dublin geschickt, wo sie dem britischen Agenten Paul (Michael Fassbender) bei Verhandlungen beistehen sollte. Als sie dabei von Paul hinterrücks angegriffen wurde, kapierte sie, dass alles nur eine Falle war. Nun ist sie auf der Flucht. Doch wer ist alles in die Verschwörung gegen sie verwickelt?

Kritik:

Die Filmwelt horchte auf, als bekanntgegeben wurde, dass Steven Soderbergh für seinen Agententhriller Haywire eine der führenden Mixed-Martial-Arts-Kämpferinnen der Welt, Gina Carano, in ihrer ersten grösseren Filmrolle gecastet hatte. Soderbergh scheint ein Händchen für die Entdeckung von weiblichen Jungstars aus anderen Branchen zu haben - er besetzte bereits 2009 die Hauptrolle von The Girlfriend Experience mit der ebenfalls durch ihren "Körpereinsatz" bekannt gewordenen Pornodarstellerin Sasha Grey.

Bei Haywire zahlt sich dieses Casting mehr als aus. Wenn der Film eine unumstrittene Stärke hat, dann sind es seine in nicht geringer Zahl vorhandenen Kampfszenen: Knallhart, brutal und auf angenehme Weise auch glaubwürdiger als im üblichen Actionkino. Dies erstens, weil Carano keineswegs zur unbesiegbaren Kampfmaschine stilisiert wird, sondern auch mal Mühe hat, mit zwei Spezialeinheiten fertigzuwerden. Zweitens, weil hier niemand auch nur im Entferntesten auf den Gedanken kommen wird, es seien irgendwelche Stunddoubles im Einsatz gewesen und die Fights seien nicht 100-prozentig handmade. Nicht nur Carano, sondern auch ihre Co-Stars Channing Tatum (überraschend gut) und Michael Fassbender (warum wurde der eigentlich nicht als Bond gecastet?) geben vollen Einsatz und dürften Jason Statham ganz schön neidisch machen.

Die Intensität der Actionszenen wird auch dadurch verstärkt, dass Haywire formal für einen Agententhriller ziemlich ungewöhnlich daherkommt. In den Zeiten der Hyperwackelkamera dürften die vergleichsweise ruhigen, distanzierten Einstellungen des Filmes für manchen eine angenehme Abwechslung sein und verstärken den Realismus der Fights. Die karg und naturalistisch gehaltenen Bilder unterbinden jede Spur von Agentenglamour, und überhaupt vergeudet Soderbergh an den zahlreichen internationalen Locations keine Minute mit Sightseeing à la James Bond. Ungewöhnlich ist auch der im Siebziger-Stil gehaltene und etwas zu dominant eingesetzte Soundtrack.

Gut inszenierte Actionszenen nützen leider nicht viel, wenn man keine gute Geschichte zu erzählen hat, und tatsächlich macht das Drehbuch den Anschein, als sei es innerhalb von zwei Wochen hingeschludert worden. Die Handlung des Filmes enthält nichts, wirklich nichts, das man nicht schon in Dutzenden von anderen "Agent wird von seinen Auftraggebern übers Kreuz gelegt"-Filmen gesehen hätte - selbst wenn der Protagonist hier eine Frau ist (das hatten wir ja auch schon in Colombiana). An sich wäre das noch kein Problem, denn gerade Mission: Impossible - Ghost Protocol bewies ja kürzlich, dass auch alter Kaffee unterhaltsam sein kann, wenn er nur gut aufgewärmt wird. Dies lässt sich von Haywire nicht wirklich behaupten, denn der Film ist ein Chaos aus unschön verknüpften Rückblenden und funktioniert dramaturgisch nicht. Die gesamte erste Hälfte besteht daraus, dass Mallory mit Scott im Auto sitzt und ihm - warum auch immer - schön der Reihe nach erzählt, was ihr bis dato widerfahren ist, nur damit seine Figur dann plötzlich verschwindet und nicht mehr auftaucht. Was hat er in diesem Film zu suchen? Und überhaupt, wenn man die ganze Geschichte chronologisch erzählen will, warum dann die Rückblendenstruktur?

Auf dem Papier hat Haywire zweifellos die Zutaten für einen richtig fetzigen Actionstreifen: heftige Fights, einen visuell starken Regisseur und ein hochkarätiges Cast - wäre da nur eine richtige Geschichte vorhanden. So ist der Film schlussendlich nur ein weiterer Bourne-Verschnitt. Immerhin ein gut inszenierter.

ca. 6 von 10 Punkten


Dieses Review ist erschienen auf OutNow.

L'enfant d'en haut (Review)



L'enfant d'en haut

Inhalt:

Simon (Kacey Mottet Klein) lebt mit seiner grossen Schwester Louise (Léa Seydoux) allein in einer kleinen Wohnung in einem Industriegebiet. Während Louise sporadisch als Putzfrau arbeitet und damit mehr schlecht als recht für den Lebensunterhalt der Beiden sorgt, verdient sich Simon sein eigenes Geld auf eher ungewöhnliche Weise: Er stiehlt Skier, Schneebrillen und sonstige Winterausrüstung.
Dazu fährt er am Morgen mit dem Lift zum nahegelegenen Skigebiet hoch und spaziert durch Umkleidekabinen und Restaurants auf der Suche nach unbeaufsichtigten Sachen. Diese verkauft er an seine Freunde und Angestellte der Restaurants und Hotels. Dies erfordert einiges an Verhandlungsgeschick, und manchmal muss er die Skier wie neu, manchmal wie gebraucht aussehen lassen. Doch während Simons "Geschäft" mit der Zeit umfangreicher und damit riskanter wird, verkompliziert sich auch die Beziehung zur Schwester.

Kritik:

So wie der letztjährige Locarno-Gewinner Abrir puertas y ventanas, der von drei auf sich allein gestellten Schwestern handelte, dreht sich auch L'enfant d'en haut um zwei Geschwister, die sich in der Welt der Erwachsenen zurechtfinden müssen. Zufall - oder hat der Schweizer Film eine besondere Affinität zu solchen Themen? Die einzige wirkliche Verbindung besteht vermutlich darin, dass es sich in beiden Fällen um intime Familienporträts handelt und solche in einem kleinen Land wie der Schweiz vielleicht eine besondere Bedeutung haben (man denke nur an den Klassiker Höhenfeuer). Ausserdem entwickelt sich der neue Film von Ursula Meier (Home) mit der Zeit in eine ziemlich andere Richtung als Abrir puertas, vor allem aufgrund einer überraschenden, geradezu schockierenden Enthüllung in der zweiten Hälfte, die hier nicht verraten werden soll.

Bemerkenswert an L'enfant d'en haut ist sicherlich, wie liebevoll die Beziehung zwischen Simon und seiner grossen Schwester geschildert wird. Dabei wird das klug geschriebene Drehbuch mit absolut überzeugenden Schauspielern - Home-Veteran Kacey Mottet Klein und Inglourious Basterds-Newcomerin Léa Seydoux - und einer stimmungsvollen Inszenierung kombiniert. Meier setzt weniger auf grosses Drama und schwere Gefühle, sondern siedelt ihre Geschichte im alltäglichen Strom des Lebens an und schafft es, viele Dinge ohne Worte und geradezu nebenbei zu erzählen. So legt Simon im Film eine grosse Geschäftstüchtigkeit an den Tag, es bietet sich ihm jedoch keine andere Möglichkeit, als diese in seiner Tätigkeit als Ski-Dieb zu kanalisieren. Ironischerweise entwickelt er dabei ein hohes Mass an Professionalität und verhält sich organisierter und erwachsener als seine grosse Schwester, die ziellos umherschweift und sich mit Männern abgibt, die nur das eine wollen.

Das Herzstück dieses Filmes ist also ganz und gar die Geschichte - eine herzerwärmende, berührende Geschichte, die sowohl mit leisem Humor wie mit stiller Tragik aufwartet. Dementsprechend unaufgeregt ist die Kameraarbeit von Agnès Godard, die mit naturalistisch ausgeleuchteten, ruhigen Bildern überzeugt. So erinnert L'enfant d'en haut im besten Sinne etwas an die Indie-Dramen der späten Achtziger und frühen Neunziger, die von dysfunktionalen Familien am Rande der Gesellschaft handelten (beispielsweise What's Eating Gilbert Grape).

Mit L'enfant d'en haut zeigt Ursula Meier das Schweizer Filmschaffen einmal mehr von seiner besten Seite, wofür sie in Berlin verdientermassen einen Silbernen Bären (Sonderpreis) gewonnen hat.

ca. 8 von 10 Punkten


Dieses Review ist erschienen auf OutNow.